Achtzig Minuten lang versuchen einige äußerst kluge Köpfe, die Faszination zu erklären, die von dieser Komposition ausgeht. Dass die Neunte Sinfonie Ludwig van Beethovens ein besonderes Werk ist, wussten die Menschen bereits bei der Uraufführung am 7. Mai 1824 im Wiener Theater am Kärntnertor.
Tilmann P. Gangloff, Diplom-Journalist und regelmäßiges Mitglied der Jury für den Grimme-Preis, schreibt freiberuflich unter anderem für das Portal evangelisch.de täglich TV-Tipps und setzt sich auch für "epd medien" mit dem Fernsehen auseinander. Auszeichnung: 2023 Bert-Donnepp-Preis - Deutscher Preis für Medienpublizistik (des Vereins der Freunde des Adolf-Grimme-Preises).
Dabei wussten sie gar nicht, was sie erwarten würde. Wer heute in ein klassisches Konzert geht, kennt die aufgeführten Stücke in der Regel bereits; Musik ist überall und jederzeit verfügbar, was sie auch in gewisser Weise beliebig macht. Das war damals naturgemäß anders. Der Beifall, so ist es überliefert, war frenetisch, aber der Komponist hat davon zunächst gar nichts mitbekommen: Er stand mit dem Rücken zum jubelnden Publikum und war zu diesem Zeitpunkt, knapp drei Jahre vor seinem Tod, bereits völlig taub. Den Applaus sah er erst, als eine der Sängerinnen ihn umdrehte.
Anlässlich des Jahrestages hat Carmen Traudes im Auftrag von WDR und Arte versucht, die Besonderheit dieses epochalen Werks herauszuarbeiten. Dabei ist ihr eine fesselnde Mischung gelungen: Dank vieler Sachverständiger aus unterschiedlichsten Bereichen schildert ihr Film "Die Macht der Musik" einerseits die Begleitumstände der Entstehung, befasst sich andererseits aber auch ganz konkret mit dem Werk. Diese Passagen sind für alle, die ein großes Interesse am musikalischen Detail haben, sehr spannend.
Die Autorin hat mit gleich vier internationalen "Weltstars am Pult" gesprochen, die sich in Herkunft, Alter und Temperament ganz erheblich voneinander unterscheiden: der vergleichsweise junge Finne Klaus Mäkelä (Jahrgang 1996), der Lette Andris Nelsons (1978) und der Italiener Riccardo Chailly (1953). Interessanteste Gesprächspartnerin zumindest auf dieser Ebene ist jedoch Joana Malwitz (1986). Wenn die Chefdirigentin und künstlerische Leiterin des Konzerthausorchesters Berlin, zuvor im Alter von gerade mal 27 Jahren Generalmusikdirektorin am Theater Erfurt, am Klavier den Aufbau des letzten Satzes erklärt, bekommen auch Menschen, die Musik bloß konsumieren, eine Ahnung, was die herausragende Bedeutung der Neunten Sinfonie ausmacht.
Mindestens genauso spannend ist die Analyse des Textes. Beethoven hat sich bei der Bearbeitung von Friedrich Schillers Gedicht "An die Freude" einige Freiheiten und Kürzungen erlaubt, weil ihm manche Passage wohl allzu profan erschien; bei Schiller geht es zuweilen recht krachledern zu ("Brüder fliegt von euren Sitzen, wenn der volle Römer kraißt"). Zwar hat auch der Komponist nicht auf die bacchantische Stimmung verzichtet ("Freude trinken alle Wesen an den Brüsten der Natur"), aber insgesamt ist seine Version doch deutlich erhabener.
Die berühmtesten Verse stammen jedoch von Schiller, wenn auch nicht aus der Urfassung. Der Dichter hat die erste Strophe ("Freude, schöner Götterfunken") vermutlich erst kurz vor seinem Tod (1805) geändert. So sind jene Zeilen entstanden, die auch den Geist der Sinfonie repräsentieren: "Deine Zauber binden wieder, was die Mode streng geteilt; alle Menschen werden Brüder, wo dein sanfter Flügel weilt." Dieses Hauptthema des letzten Satzes wurde 1972 zur Hymne des Europarats und 1985 von der Europäischen Gemeinschaft, dem Vorläufer der EU, zur offiziellen Europahymne erklärt.
Der politische Zusammenhang ist ohnehin interessant. Beethoven hatte Schillers Gedicht auch in dieser Hinsicht entschärft, aber eine Aneignung durch unterschiedlichste Strömungen hat sich dadurch dennoch nicht verhindern lassen. Für die Nationalsozialisten hatte Beethoven zwar nicht den Stellenwert Richard Wagners, aber missbraucht haben sie seine Musik trotzdem. Nach dem Fall der Mauer setzte Leonard Bernstein ein Zeichen, als er die "Neunte" erst im Westen und dann im Osten Berlins aufführte, wobei er das Wort "Freude" durch "Freiheit" ersetzte.
Herzstück solcher Dokumentationen sind normalerweise die Gespräche, und in der Tat sind die Ausführungen hochinteressant, aber auch die optische Ebene ist vielfältig und abwechslungsreich. Lebendig wird der Film vor allem durch die vielen verschiedenen Aufführungen der Sinfonie sowie durch passende Spielfilmausschnitte. Für Einblicke ins Seelenleben des Komponisten sorgen eigens produzierte Spielszenen mit Christian Kuchenbuch. Ab 21.35 Uhr überträgt Arte Aufführungen der vier Sinfonie-Sätze aus Leipzig, Paris, Mailand und Wien.