"The Zone of Interest" war einer der Abräumer bei der diesjährigen Oscar-Preisverleihung, wurde als bester internationaler Film und für den besten Ton geehrt. Der Film zeigt den Alltag des Auschwitz-Kommandanten Rudolf Höß und seiner Familie. In dem NS-Konzentrationslager wurden mindestens 1,1 Millionen Menschen ermordet. Nüchtern schildert Regisseur Jonathan Glazer die Banalität des Bösen. So spielen etwa die fünf Kinder von Rudolf und Hedwig Höß im Garten, während im Hintergrund Rauch aus den Krematorien aufsteigt.
Kai Uwe Höss ist der Enkel von Rudolf Höß. Die Schreibweise seines Namens änderte er später wegen zahlreicher beruflicher Stationen im Ausland, wo man kein "ß" kennt. Er habe sich den Film nicht angesehen. Stattdessen ist er selbst nach Auschwitz gefahren. "Ich habe während dieser Woche viel geweint", sagt Höss dem Evangelischen Pressedienst.
Er erzählt von der Rampe, wo die Deportierten einst selektiert wurden: "Nach rechts kamen jene, die als Zwangsarbeiter eingesetzt wurden, nach links kamen Kinder, Kranke und Greise. Die waren nach wenigen Stunden Asche und Rauch." Fassungslos mache ihn die Akribie, mit der sein Großvater vorging. So dachte er sich ein Kennzeichnungssystem aus, das es in keinem anderen KZ gab: Statt den Deportierten Nummern an die Kleidung zu heften, ließ er sie Neuankömmlingen in den Arm tätowieren.
Auf der anderen Seite seien da die Erzählungen seines eigenen Vaters Hans-Jürgen, dem zweitjüngsten der fünf Höß-Kinder, der seinen Vater Rudolf als fürsorglich und liebevoll beschrieben habe. Kai Uwe Höss erzählt von dem unterirdischen Gang, der von der Dienstvilla in Auschwitz ins Lager führte: "Wenn er dort durchging, wandelte er sich vom liebevollen Familienvater zum pflichtbewussten Massenmörder."
"Wer will schon mit Rudolf Höß verwandt sein?"
Kai Uwe Höss ist 62. Seinen Großvater, der 1947 zum Tod verurteilt und gehängt wurde, kennt er nur aus dessen Tagebuchaufzeichnungen und aus Erzählungen. Anders ist es bei seiner Großmutter Hedwig. Zwar habe sie nur sehr selten von früher erzählt, erinnert sich der Enkel. Aber wenn, sei deutlich geworden, dass sie den Sozialdarwinismus, auf den sich die Nationalsozialisten beriefen, nach wie vor befürwortete: "In ihrer Weltsicht kamen nur die Stärksten durch." Sie sei bis zum Ende ihres Lebens in diesem System gefangen gewesen. Hedwig Höß starb 1989.
Im Elternhaus in Walheim bei Ludwigsburg, wo Kai Uwe Höss aufwuchs, wurde nur selten über die Vergangenheit gesprochen. Vater Hans-Jürgen schien überfordert von dem Erbe. Seiner Frau Irene erzählte er lange nichts von seiner Herkunft. Die Ehe scheiterte. Und auch wenn kaum jemand über die Vergangenheit gesprochen habe, sei das familiäre Erbe auch für Kai Uwe Höss stets gegenwärtig gewesen - allein schon wegen des Namens. "Wer will schon mit Rudolf Höß verwandt sein?", fragt er. "Spätestens wenn in der Schule der Nationalsozialismus drankommt, wird man auf den Namen angesprochen."
Höss wollte dieser Enge entfliehen. Nach der Schule ließ er sich zunächst zum Koch ausbilden, ging mit der Bundeswehr nach Großbritannien, studierte Hotelmanagement. Er arbeitete als Manager für Fünf-Sterne-Häuser in Macao und Hongkong, Kairo und Dubai, Singapur, Thailand und Bali. In seiner knapp bemessenen Freizeit feierte er Partys und genoss das Leben auf der Überholspur. "Aber ich fühlte mich innerlich leer."
Eine Zäsur brachte eine missglückte Operation, die ihn fast das Leben gekostet hätte. Im Krankenhaus fand er im Nachttisch eine Bibel und begann darin zu lesen. "Ich erinnerte mich an viele der biblischen Geschichten, die uns unsere sehr gläubige Urgroßmutter als Kinder erzählt hatte", erzählt Höss. "Im Frühjahr 1989 entschied ich mich, fortan ganz bewusst als Christ zu leben." Er kehrte dem Hotelmanagement den Rücken, gründete 2003 zusammen mit anderen Christen die freikirchliche "Bible Church Stuttgart - Bibelgemeinde Stuttgart". Die englischsprachige Gemeinde hat rund 100 Mitglieder.
Sein Name und alles, was damit historisch verbunden ist, wird wohl immer eine Hypothek bleiben. Der Familienvater hat sich mit einem Vers aus dem 4. Buch Mose beschäftigt, in dem es heißt, dass Gott "die Missetat der Väter an den Kindern bis ins dritte und vierte Glied" heimsuchen wird. Das beträfe auch noch seine Nachkommen.