Um die fünfzig und schwanger: Das ist eine frohe Botschaft mit sehr großem Aber, denn mit den Jahren erhöhen sich die Risiken enorm. Daher wird ein pränataler Test empfohlen, mit dem sich frühzeitig erkennen lässt, ob ein Kind gesund zur Welt kommen wird. Aber wie sollen sich Eltern verhalten, wenn diese Untersuchung positiv ausfällt, also nicht das erhoffte Ergebnis hat? In der Regel folgen dann weitere Tests, die jedoch zu einer Fehlgeburt führen können. Manchmal, heißt es gleich zweimal in diesem Film, mit dem die 2017 gestartete Reihe ein kleines Jubiläum feiert, sei es besser, nicht zu wissen, was die Zukunft bringt. Menschen mit Trisomie 21 (Down-Syndrom) sind eine unschätzbare Bereicherung, doch wenn jeder positive pränatale Test zu einem Schwangerschaftsabbruch führt, wird es sie irgendwann nicht mehr geben.
Für einen Freitagsfilm im "Ersten" ist das ein ziemlich herausfordernder Stoff, aber die große Qualität von "Praxis mit Meerblick" liegt ja gerade in dem Mut, sich auch mit unbequemen Themen auseinanderzusetzen. Medizinisch galt das bislang vor allem für die Fälle, mit denen sich Nora Kaminski (Tanja Wedhorn) in ihrem Nebenjob als Notärztin befassen muss, weil die Geschichten sie jedes Mal aufs Neue mit rätselhaften Krankheitssymptomen konfrontieren; diesmal steht sie in dieser Hinsicht selbst im Mittelpunkt.
Weil sie weiß, dass die Menschen in ihrer Umgebung nicht gerade zuverlässig sind, was Vertraulichkeiten angeht, will sie erst mal niemanden einweihen, aber lange lässt sich die Kunde natürlich nicht geheim halten. "Wir expandieren!", freut sich Michael Kulbatsky, der zumeist aufgeräumte unerklärte Lebensgefährte von Noras Vermieterin und mütterlicher Freundin (Petra Kelling), und lässt sogleich den passenden Trinkspruch folgen: "Auf die gute Hoffnung!"
Davon abgesehen kümmert sich die Ärztin in der zwanzigsten Episode um eine vom Pferd gestürzte Theaterschauspielerin. Nora befürchtet zunächst eine Querschnittslähmung, doch das Taubheitsgefühl in ihren Beinen hat Jennifer Larsson (Anne-Marie Lux) schon vorher verspürt. Die junge Frau steht unter großem Stress, demnächst ist Premiere des Stücks "Die Nibelungen", und sie spielt die weibliche Hauptrolle. Nora verschreibt ihr ein starkes Beruhigungsmittel und empfiehlt ihr eine dringende Auszeit, aber die ehrgeizige Jennifer kehrt umgehend zu den Proben zurück und stürzt prompt von der Bühne. Die Lösung des Rätsels findet sich schließlich in der Krankheitsgeschichte ihrer Mutter.
Tilmann P. Gangloff, Diplom-Journalist und regelmäßiges Mitglied der Jury für den Grimme-Preis, schreibt freiberuflich unter anderem für das Portal evangelisch.de täglich TV-Tipps und setzt sich auch für "epd medien" mit dem Fernsehen auseinander. Auszeichnung: 2023 Bert-Donnepp-Preis - Deutscher Preis für Medienpublizistik (des Vereins der Freunde des Adolf-Grimme-Preises).
Wie stets verknüpft das Drehbuch die beiden zentralen Handlungsebenen mit vielen Nebengeschichten, die aber nie wie ein Vorwand wirken, um auch die weiteren Ensemble-Mitglieder mit Spielmaterial zu versorgen. "Die Kämpferin" ist die siebte Arbeit von Marcus Hertneck für die Reihe. Der frühere Dramaturg und Kritiker, überdies ausgebildeter Rettungssanitäter, erweist sich erneut nicht zuletzt als begnadeter Dialogautor. Aller zwischenzeitlichen Heiterkeit zum Trotz verliert der Film dennoch nie den Ernst der Lage aus dem Blick, selbst wenn zum Beispiel Noras Auseinandersetzungen mit Doktor Heckmann (Patrick Heyn) ein zuverlässiger Quell für beißende Ironie sind. Die Sparmaßnahmen des ärztlichen Leiters der Klinik haben zu unhaltbaren Missständen geführt; Nora verschärft den Personalmangel, weil sie wegen der erhöhten Infektionsgefahr nicht mehr als Notärztin aktiv sein darf.
Über allem steht jedoch die Frage, welche Entscheidung die werdenden Eltern treffen sollen. Hertneck macht es seiner Heldin und ihrem Lebensgefährten Max (Bernhard Piesk) nicht leicht; die entsprechenden Gespräche sind von Hoffnung und Sorge, aber vor allem von Liebe geprägt. Deshalb bleibt auch ein zwischenzeitlicher Schatten, der auf die Beziehung fällt, als sich eine frühere Freundin an den Architekten ranmacht, folgenlos, selbst wenn früh klar ist, dass Bianca (Katharina Heyer), einst Kommilitonin und heute Konkurrentin bei der Ausschreibung für eine Schule, nichts Gutes im Schilde führt.
Regie führte wieder Jan R?ži?ka, "Die Kämpferin" ist sein dreizehnter Beitrag zu "Praxis mit Meerblick". Der Film ist dicht inszeniert, die verschiedenen Handlungsstränge ergeben ein harmonisches Gesamtbild; einzig die diesmal zudem etwas beliebig klingende Musik (Jan Janssons) wirkt angesichts der zum Teil durchaus dramatischen Entwicklungen unangemessen leutselig. Eine große Freude ist dagegen wie immer das Kostümbild (Francesca Merz): Nora Kaminskis gleichermaßen elegante wie originelle Kleidung ist in jedem Film ein Hingucker.