Vielleicht war es ein kalendarischer Zufall, dass die wiederaufgebaute Potsdamer Garnisonkirche, oder zumindest ein erster Teil, die Kapelle im Turm, ausgerechnet an Bismarcks Geburtstag eingeweiht wurde. Am 1. April 2024 wäre der spätere preußische Ministerpräsident und - nach der maßgeblich von ihm betriebenen kriegerischen deutschen Einigung - erste deutsche Reichskanzler 209 Jahre alt geworden Die feierliche Zeremonie fand am Ostermontag statt, und man fragt sich unweigerlich, wessen Auferstehung hier begangen wurde?
Erinnerungspolitisch, jedenfalls, gehört beides zusammen, symbolisiert auch in der fast gleichzeitig angestrebten, möglichst detailgetreuen Rekonstruktion der Potsdamer Militärkirche für 50 Millionen Euro und der Restauration des 35 Meter hohen Hamburg Bismarckdenkmals für 9 Millionen Euro, rechtzeitig abgeschlossen zum 125. Todestag Bismarcks am 30. Juli 2023. In einer unheiligen Trias gehört dazu noch das Berliner Schloss, für das der Palast der Republik weichen musste. Über 600 Millionen Euro wurden dafür ausgegeben, wozu noch einmal bis zu 125 Millionen Euro an Spenden, aus teils dubiosen Quellen kamen, von Stifter:innen, die durch antidemokratische, antisemitische und rassistische Positionierungen aufgefallen sind. Aus der extrem rechten Ecke war auch der Anstoß zum Wiederaufbau der Garnisonkirche gekommen.
Allen drei gemeinsam ist der Bezug auf ein idealisiertes Preußentum, und damit der – zumindest implizierte – Versuch einer (erneuten) Traditionsstiftung, zumal wenn die versprochene kritische Kontextualisierung scheitert, wie im Falle Hamburgs, oder zum reinen Beiwerk verkommt, wie im Falle des Stadtschlosses, erdrückt von der Macht der Fassade und der Symbolik des Ortes. Ähnliches zeichnet sich für Potsdam ab.
Vieles spricht dafür, dass die von den Verantwortlichen ins Gespräch gebrachten Lern- und Aufklärungsorte wenig mehr sein werden als Feigenblätter für architektonischen und denkmalschützerischen Revisionismus. Stein überdauert, das Lern- und Aufklärungskonzept kann zudem leicht angepasst werden, sollten sich die Zeiten ändern. Wollte man wirklich Gedenkorte schaffen, Lernorte statt Schreine, würde man die Rekonstruktion in ihrer Außenwirkung stören müssen, eine kritische Auseinandersetzung dadurch erzwingen. Ein ungebrochener Wiederaufbau von Gebäuden, die im von Deutschland vom Zaum gebrochenen Krieg zerstört wurden, errichtet Potemkin‘sche Dörfer, die über die – vor allem selbst verschuldeten - Wunden der Vergangenheit hinwegtäuschen, sie vergessen machen. Es ist ebenso Geschichtsklitterung wie das Aufhübschen überkommener Denkmäler ohne Adaption an die Gegenwart. Wer Denkmäler einfach nur restauriert, setzt sie neu!
Die in den Forderungen nach Wiederaufbau der Garnisonkirche ebenso wie des Berliner Schlosses und der Restauration des Hamburger Bismarck-Denkmals durchscheinende Nostalgie für Preußen, ja die implizite Neubewertung von dessen historischem Ort in der deutschen Geschichte, hat erhebliche erinnerungspolitische Auswirkungen: Sie verschiebt den identifikatorischen Kern der Berliner Republik. Dies begann unmittelbar mit der deutschen Einheit, nachdem die DDR schon in den 1980er Jahren eine leichte Kurskorrektur in Bezug auf Preußen vorgenommen hatte. So wurden bereits am 17. August 1991 die sterblichen Überreste Friedrich Wilhelms I. und Friedrichs II. unter Anwesenheit 80.000 Schaulustiger nach Potsdam umgebettet. In Berlin wurde mit Kohls Projekt der "Neuen Wache" als zentralem Gedenkort für die Opfer von Krieg und Gewaltherrschaft nicht nur Täter-Opfer-Umkehr betrieben, sondern auch die Rückkehr Preußens in die Herrschaftsarchitektur des wiedervereinigten Deutschland.
Feldaltar spielt zentrale Rolle
Man könnte diese Bestrebungen als Initiative der Rückwärtsgewandten und Ewig-Gestrigen, als steinernes Briefmarkensammeln der in der Vergangenheit Lebenden abtun, würde man nicht beobachten, wie sich Politik und andere gesellschaftliche Institutionen selbst in diese neo-borussische Traditionsfindung einschreiben. Denn darin liegt die Tragik und auch das Ungeheuerliche der Turm-Teileröffnung in Potsdam: Dort wurde nicht nur eine Kapelle eingeweiht; sondern als einziges originales Traditionselement wurde der einstige hölzerne Feldaltar aus dem Jahr 1800 zum zentralen Einrichtungsstück. Der Altar, der bis 1910 den Vorraum mit den Särgen Friedrich Wilhelm und seines Sohnes Friedrichs II. ("der Große") zierte. Immer wieder wurde er auch verwandt, um preußische bzw. später deutsche Truppen für den Krieg zu segnen, etwa bei der Aussendung von Soldaten in den Genozid an den Herero und Nama oder auch in den genozidalen Vernichtungskrieg im Osten während des Zweiten Weltkrieges.
Von hier aus predigte Divisionspfarrer Johannes Kessler am 26.7.1900 vom "tausendjährige[n] Kampf zwischen Morgen- und Abendland", und segnete deutsche Truppen nach China, wohin sie zur Niederschlagung des "Boxerkrieges" gesandt wurden, einem Feldzug der deutsche Barbarei und Kriegsverbrechen buchstäblich in die kollektive Erinnerung der Welt einschrieb.
Es gälte "die Fahne, die über unseren Kolonien schwebt, zu schützen", meinte er. "Nicht Friede darf werden auf Erden, bis das heilige Evangelium der Glaube aller Völker ist. Ihr seid die Pioniere des gekreuzigten Heilands! Darum Hand an das Schwert!", so lautete sein Appell. Diese Worte stehen der berühmten "Hunnenrede" Kaiser Wilhelms II. in Bremerhaven nur einen Tag später in Menschenverachtung nicht nach. Sein "Kommt ihr vor den Feind, so wird derselbe geschlagen! Pardon wird nicht gegeben! Gefangene werden nicht gemacht! Wer euch in die Hände fällt, sei euch verfallen! (...) dass es niemals wieder ein Chinese wagt, einen Deutschen scheel anzusehen", wurde sprichwörtlich für deutsche Brutalität und Grausamkeit, Jahrzehnte vor dem Holocaust.
Die Predigt Kesslers belegt, wie tief verwurzelt in der Wilhelminischen Gesellschaft diese mit eigenen Überlegenheitsvorstellungen gepaarte Menschenverachtung war. Und als Erinnerungsort verbindet diese Predigt den Altar und die Garnisonkirche mit der Kuppel des Stadtschlosses, wo durch private Spender:innen nun wieder zu lesen ist: "Es ist in keinem andern Heil, ist auch kein anderer Name den Menschen gegeben, denn in dem Namen Jesu, zur Ehre Gottes des Vaters. Dass in dem Namen Jesu sich beugen sollen aller derer Knie, die im Himmel und auf Erden und unter der Erde sind."
Alte Tradition schlägt neue Wurzeln
In Potsdam ist es der Altar, der die Verbindung zu Kriegsverbrechen, Vernichtungskriegen bis hin zum Genozid, herstellt, und die Nutzung des Feldaltars durch Pastor:innen in der Gegenwart inakzeptabel machen sollte. "An diesem Altar haben sich unsere Vorgänger schuldig gemacht", hieß es bei der Einweihung aus Kreisen der evangelischen Kirche. Ja, das haben sie getan, und die gegenwärtigen machen sich mitschuldig, indem sie dieser Tradition erlauben, neue Wurzeln zu schlagen. Denn darum geht es, um neue Traditionsbildung, die in wesentlichen Teilen eine alte ist. Wozu bräuchte man ihn sonst, den originalen Altar? Predigen und die Liturgie feiern, könnte man auch am neuen Tisch, am neuen Ort. Warum sich überhaupt dem Missverständnis aussetzen, man stelle sich in die preußische Tradition, noch dazu in die ihrer unheilvollsten Ausprägungen? Es sei denn, man will genau dies, vielleicht als Echo einer Tradition des Bündnisses von Thron und Altar. Denn das ist die Unterstützung für den Wiederaufbau und die Nutzung der Kapelle, einschließlich Altar: ein - zumindest implizites - Bekenntnis zur Tradition des deutschen Monarchismus, Militarismus, Kolonialismus und völkermörderischer Gewalt.
Der Altar gehört deshalb ins Museum, nicht in die Kirche. Stattdessen gehören die Opfer deutscher Gewalt zentral in den Mittelpunkt gerückt. Was stattdessen passiert, und wozu die evangelische Kirche buchstäblich ihren Segen zu geben scheint, ist eine veritable Täter-Opfer-Umkehr, wie Philipp Oswalt jüngst zu recht ausführte: Die Garnisonkirche, die im Zweiten Weltkrieg weitgehend zerstört wurde, in einem Krieg also, der von Deutschland ausging, und auch von genau diesem Militarismus getragen war, für den Feldaltar wie Kirche stehen, wird zum Opfer des Bombenkriegs und der DDR-Diktatur. Fast liebevoll wird sie dafür wieder aufgebaut, denn mit der Kirche wäscht man sich auch selbst rein, von den Verfehlungen und dem Versagen der Vergangenheit. Das ist der Unterschied zwischen einer Ruine als Mahnmal und einer Wiederherstellung aus der Retorte. Ersteres ist Geschichte, letzteres Geschichtsklitterung.
Steingewordener Schlussstrich
Ein Wiederaufbau wie in Potsdam, oder des Berliner Schlosses, ist deshalb ein Akt von hoher erinnerungspolitischer Relevanz: Es ist eine Abkehr von der selbstkritischen Hinterfragung der deutschen Geschichte auf die Vorläufer und Wurzeln der nationalsozialistischen Verbrechenspolitik bis hin zum Vernichtungskrieg und Holocaust. Es ist ein steingewordener Schlussstrich.
Bleibt die Frage, warum ausgerechnet die evangelische Kirche sich dafür hergibt, dem restaurativen, um nicht zu sagen, revisionistischen Aufbau der Garnisonkirche höhere Weihen zu verleihen? Ist es innere Überzeugung, die sich von der national-protestantischen Tradition der Kirche nie ganz löste, ist es ein Anbiedern an die rechts-populistische Strömung im Land, oder ist es einfach nur Gedankenlosigkeit? Es ist jedenfalls nicht der einzige Fall von protestantischer Geschichtsvergessenheit: In Hamburgs Hauptkirche St. Michaelis prangt seit Kaisers Zeiten eine Gedenktafel für Hamburgs gefallene Söhne im Boxerkrieg und dem Völkermord an den Herero und Nama, wohlgemerkt nur an die Täter, nicht an die Opfer. Allen Versuchen der kritischen Annotierung und Kontextualisierung verweigert sich die Kirche, das sei der Gemeinde nicht zuzumuten, heißt es. Koloniale Apologie hat offenbar System.
Die Evangelische Kirche Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz sollte, um auf die Garnisonkirche zurückzukommen, um jeden Zweifel zu vermeiden, zumindest auf Entfernung des Feldaltars bestehen. Ihre seelsorgerische Tätigkeit kann sie auch ausüben, ohne rechten Narrativen Vorschub zu leisten. Denn diese sind auf dem Vormarsch, und bedienen sich der Instrumente der Restauration. Wer damit nicht in Verbindung gebracht werden will, muss Abstand halten.
Jürgen Zimmerer ist Professor für Globalgeschichte an der Universität Hamburg und leitet die Forschungsstelle "Hamburgs (post-)koloniales Erbe". Zu seinen jüngsten Publikationen gehört: "Erinnerungskämpfe. Neues deutsches Geschichtsbewusstsein", Stuttgart 2023.