In Deutschland gibt es jedes Jahr nicht aufgeklärte Morde, viele Menschen sind einfach irgendwann spurlos verschwunden. In einigen Bundesländern gibt es polizeiliche Einheiten, die auf solche "Cold Cases" spezialisiert sind. Dank wissenschaftlicher und kriminaltechnischer Entwicklungen kommt es immer wieder vor, dass "kalte Fälle" dieser Art erst Jahrzehnte später geklärt werden. Davon erzählt auch "Briefe aus dem Jenseits", der fünfte Film aus der titellosen ZDF-Reihe über die Arbeit des von Heino Ferch gespielten Mönchengladbacher Hauptkommissars Ingo Thiel.
Einer seiner spektakulärsten Erfolge war der "Fall Mirco", den er mit seinem Team fünf Monate nach dem Verschwinden eines zehnjährigen Jungen in einem Dorf am Niederrhein 2011 lösen konnte. Thiel hat diesen und andere Fälle in einem 2012 erschienenen Buch beschrieben. Fünf Jahre später diente die Schilderung dem schreibenden Ehepaar Fred Breinersdorfer und Katja Röder als Vorlage für das Drehbuch zu dem ZDF-Film "Ein Kind wird gesucht". Es folgten drei weitere Verfilmungen (alle in der ZDF-Mediathek), die sich von herkömmlichen Krimis durch ihre fast dokumentarische Machart unterscheiden.
Regie führte zunächst Urs Egger. Nach seinem Tod übernahm sein Schweizer Landsmann Markus Imboden die Reihe, blieb der Machart jedoch treu. Seinen zweiten Beitrag, "Wo ist meine Schwester?", hat das ZDF im Frühjahr ausgestrahlt. Mit "Briefe aus dem Jenseits" ändert sich die Handschrift. Niki Stein, Schöpfer vieler großer TV-Filme, darunter das preisgekrönte Scientology-Drama "Bis nichts mehr bleibt" (2010) sowie die formidable Stuttgarter "Tatort"-Episode "HAL" (2016), hat einen anderen Ansatz gewählt: weniger dokumentarisch und deutlich dramatischer.
Gerade die zentrale Figur ist nun ungleich nahbarer. Bislang hat Ferch den Kommissar stets kontrolliert und fast distanziert verkörpert. Deshalb ist Thiels Reaktion umso überraschender, als ihm sein Freund und Kollege Winni Karls (Ronald Kukulies) offenbart, dass er sich Richtung LKA Düsseldorf verändern will. Fortan tauschen die beiden allerlei mehr oder minder subtile Feindseligkeiten aus, was zur Folge hat, dass sie mitunter ihre eigentliche Aufgabe aus den Augen verlieren; und damit auch der Film.
Tilmann P. Gangloff, Diplom-Journalist und regelmäßiges Mitglied der Jury für den Grimme-Preis, schreibt freiberuflich unter anderem für das Portal evangelisch.de täglich TV-Tipps und setzt sich auch für "epd medien" mit dem Fernsehen auseinander. Auszeichnung: 2023 Bert-Donnepp-Preis - Deutscher Preis für Medienpublizistik (des Vereins der Freunde des Adolf-Grimme-Preises).
Die Geschichte hätte diesen Nebenschauplatz ohnehin nicht nötig gehabt, denn sie ist komplex genug: Vor 25 Jahren ist der fünfzehnjährige Sven abends nicht mehr heimgekommen. Thiels Vorgänger, Gerd Dennert (Manfred Zapatka), hat auch nach seiner Pensionierung nie den Kontakt zu den Eltern des Jungen verloren. Nach dem Verschwinden sind noch einige Wochen lang Postkarten aus verschiedenen europäischen Ländern eingetroffen. Sie stammten von einer Person namens Chris. Sven gehe es gut, schrieb sie. Irgendwann blieben diese Lebenszeichen aus, aber nun haben die Eltern wieder Post erhalten: Sven werde demnächst zurückkehren. Dennert wendet sich an Thiel, der den Fall wieder aufrollt, aber recht bald feststellen muss, dass sämtliche Spuren buchstäblich ins Nichts führen: Der Weg, den der Junge damals davon geradelt ist, endet heute im Tagebau Garzweiler; in den letzten 25 Jahren sind nicht nur Sven, sondern auch ganze Dörfer verschwunden.
Wie bei den früheren Filmen resultiert die Faszination von "Briefe aus dem Jenseits" nicht zuletzt aus der detailgetreuen Schilderung der Ermittlungsarbeit: Stil und Handschrift der verschiedenen Schriftstücke sind identisch. Allerdings stellt eine LKA-Spezialistin für operative Fallanalyse (Mareile Blendl) zur allgemeinen Verblüffung fest, dass die Schreiberin offenbar 15 Jahre alt ist. Geschickt vermengt das Drehbuch (Stein und Röder) nun Dennerts damalige Erkenntnisse mit den heutigen Ergebnissen. Eine dritte Erzählebene scheint mit dem eigentlichen Fall gar nichts zu tun zu haben: Eine Mutter (Franziska Wulf) macht sich Sorgen, weil ihre Teenagertochter anzügliche Fotos ins Netz gestellt hat, und will um jeden Preis verhindern, dass der inhaftierte Großvater (Lazlo Kish) des Mädchens wieder Zugriff auf ihr Leben bekommt.
Wie sich die beiden zunächst parallel verlaufenden Handlungsstränge schließlich vereinigen, ist clever eingefädelt und ziemlich überraschend. Handwerklich ist der Film ohnehin ausgezeichnet. Stein hat wie meist mit Arthur W. Ahrweiler zusammengearbeitet, dessen agile Kamera gerade in den Revierszenen zur teilnehmenden Beobachterin wird. Sehr reizvoll sind auch die wie ein alter Technicolor-Film gestalteten Rückblenden in die Jahre um die Jahrtausendwende. Die Auflösung des Falls ist gleichermaßen bedrückend wie schockierend.