Jugendseelsorge ist ein wenig erforschtes Gebiet. Das soll sich ändern, geht es nach Annette Haußmann. Die Professorin für praktische Theologie an der Universität Heidelberg forscht zum Einsatz digitaler Medien in der Seelsorge, "Jugend und Mental Health" heißt ihr neues Projekt.
"Ich glaube, dass wir mit der seelsorgerlichen Jugendarbeit ein Pfund haben, mit dem wir wuchern können", sagt Haußmann dem Evangelischen Pressedienst (epd). Die Zahlen psychischer Erkrankungen seien seit der Corona-Pandemie vor vier Jahren deutlich gestiegen, beobachtet die Theologin und Psychotherapeutin, die bei der Evangelischen Landeskirche in Baden das Zentrum für Seelsorge leitet.
Nach Sinnfragen und Ängsten beschäftigten Jugendliche vor allem Beziehungsprobleme oder Heimweh, so der Tenor beim Vortrag "Jugendseelsorge digital 2024" in Bad Herrenalb. Hilfreich für die Kommunikation mit Jugendlichen seien - allen Bedenken wegen möglicher Hassbotschaften zum Trotz - digitale Medien, zeigt sich Haußmann überzeugt.
Chats, E-Mails, Messenger Dienste, Apps, Facebook, Instagram oder Videotelefonate eigneten sich nach einem ersten persönlichen Gespräch für die Fortsetzung des Austauschs. Die Forscherin sieht in den digitalen Medien ein "großes Potenzial". Die Anonymität senke die Hemmschwelle, über schwierige Themen zu sprechen, und erlaube eine hohe Selbstbestimmtheit.
Nähe durch Distanz?
Gerade Jugendliche, die sich nur schwer öffnen könnten, profitierten von dem Paradoxon der "Nähe durch Distanz". Sich im persönlichen Gespräch, etwa zu Suizidgedanken zu äußern, sei "hochschambesetzt", betont Haußmann. Dass die persönliche Begegnung Hürden schafft, bestätigt auch ein Teilnehmer des Fachvortrags. Er schätze die digitale Kommunikation, weil er nicht sofort antworten müsse und sich Zeit zum Überlegen lassen könne. "Ich bin währenddessen nicht dem Blick des anderen ausgesetzt.
Der Landesjugendreferent der Evangelischen Landeskirche in Baden, Eberhard Reinmuth, hat ebenfalls Erfahrungen mit digitalen Seelsorgekontakten. Vorteilhaft sei die Autonomie, die das Gegenüber durch die Anonymität behalte. Der Jugendliche entscheide, was er sagen wolle und wie lange. Als Jugendleiter wolle er "nicht übergriffig sein", betont Reinmuth. Psychische Probleme Jugendlicher schlagen überall dort auf, wo junge Menschen unterwegs sind: in Konfirmandengruppen, auf Freizeiten, in der Schule. Teamleiter stehen vor neuen Herausforderungen. Der landeskirchliche Beauftragte für die Qualifizierung und Begleitung von Ehrenamtlichen im Seelsorgedienst, Gerd Haug, beobachtet einen "hohen Bedarf" an Weiterbildung.
Fragen durch die "Seelsorgebrille" sehen
Haug organisiert Fortbildungen zur Entwicklung einer "seelsorgerlichen Haltung" für Lehrerinnen und Lehrer verschiedener Fachrichtungen, Betreuer von Jugendfreizeiten oder Konfirmandengruppen. Er spricht von einer "Seelsorgebrille", durch die der Erwachsene die spezifischen Fragen der Jugend sehen lernen solle. So erhalte "das Zerbrechliche des Lebens" einen Platz in der Begegnung, ergänzt Haußmann.
"Es geht nicht um eine problemzentrierte, sondern um eine stärkende Perspektive", betont Haußmann. In Freizeiten bedeute das etwa, dass Jugendliche mehr Selbstwirksamkeit erfahren könnten. Lehrer könnten, ebenso wie Pfarrer und Diakone, "Ankerpunkte" werden, die Jugendliche in ihrem Alltag begleiten.
Gerade der Religionsunterricht eigne sich für die Besprechung von Sinnfragen, findet die Theologin. Forschungsergebnisse belegten, dass Sinnfragen für Jugendliche am wichtigsten seien. "Jugendliche hören genau hin, wo ihre Themen angesprochen werden", ist die Theologin überzeugt.
"Seelsorge on Demand" bietet seit vergangenem Jahr die Evangelische Lutherische Landeskirche Hannover mit dem Portal "Ankerplatz". Das Portal bietet Kirchengemeinden und -regionen sowie Beratungsstellen einen datensicheren Kontaktweg über E-Mail, Chat und Video. Ziel ist es, Hilfesuchende und Anbieter von Seelsorge über Soziale Medien in Kontakt zu bringen.