Krimispannung resultiert in der Regel aus einer einfachen Frage: Wer war’s? Manchmal hat das Publikum auch einen Wissensvorsprung, weil es die Tat beobachtet hat; dann liegt der Reiz der Filme darin, dem Ermittlungsteam bei der Arbeit zuzuschauen. Mit "Ein Kind wird gesucht" (2018) haben Fred Breinersdorfer und Katja Röder (Buch) sowie Urs Egger (Regie) vor einigen Jahren eine dritte Spielart kreiert. Das Drehbuch orientierte sich am "Fall Mirco", als die Polizei im Sommer 2010 monatelang nach einem Zehnjährigen suchte. Natürlich hat das Trio das Genre "True Crime" nicht erfunden.
Krimis nach wahren Begebenheiten sind ein alter Hut; schon Wolfgang Menges Drehbücher für die ARD-Klassikerreihe "Stahlnetz" (1958 bis 1968) waren durch authentische Ereignisse inspiriert. Neu an Eggers Umsetzung war jedoch die dokumentarische Anmutung, die auch den zweiten Film ("Die Spur der Mörder", 2019) prägte: Die Kamera erzählt die Geschichte nicht, sondern beschränkt sich darauf, die handelnden Personen zu beobachten. Musik wird nur ganz sparsam eingesetzt, auf emotionalisierende Momente wird ebenso verzichtet wie auf die üblichen Spannungsverstärker, etwa in Form von Verfolgungsjagden.
Nach dem Tod des Schweizer Regisseurs hat sein Landsmann Markus Imboden diesen Stil nahtlos fortgeführt, erst mit "Ein Mädchen wird vermisst" (2021), dann mit "Wo ist meine Schwester?" (TV-Premiere war 2022); beim jüngsten Film hat Röder das Drehbuch erstmals ohne Breinersdorfer verfasst. Es basiert ebenso wie die anderen Krimis auf einem Fall des echten Hauptkommissars Ingo Thiel. Diesmal sucht die Polizei nach einer verschwundenen Frau. Thiel ist überzeugt, dass Amelie, Anfang dreißig, von ihrem Freund Jonas (Max Hubacher) ermordet worden ist, aber es gibt keine Leiche, und die Indizienlage ist äußerst dünn. Das klingt erst mal nicht besonders aufregend, doch der Fall unterscheidet sich von anderen durch ein spezielles Merkmal: Amelie hat eine eineiige Zwillingsschwester, Marie (Kristin Suckow), was die Arbeit der Polizei nicht gerade erleichtert, denn auf die Vermisstenanzeige melden sich prompt Menschen, die nicht Amelie, sondern Marie gesehen haben.
Tilmann P. Gangloff, Diplom-Journalist und regelmäßiges Mitglied der Jury für den Grimme-Preis, schreibt freiberuflich unter anderem für das Portal evangelisch.de täglich TV-Tipps und setzt sich auch für "epd medien" mit dem Fernsehen auseinander. Auszeichnung: 2023 Bert-Donnepp-Preis - Deutscher Preis für Medienpublizistik (des Vereins der Freunde des Adolf-Grimme-Preises).
Wie in den anderen Filmen ist die Umsetzung denkbar zurückhaltend. Dazu passt auch das Spiel von Heino Ferch. Der Schauspieler neigt ohnehin nicht zu übertriebener Mimik, aber den Mönchengladbacher Kommissar hat er von Anfang noch sparsamer angelegt als sonst. Typisch für diese Zurückhaltung ist der Moment, als Thiel seinem Frust freien Lauf lässt und einen Schrei ausstößt; aber der ist erst zu hören, als er aus dem Bild gegangen ist. Der Film dagegen schaut geduldig zu, wie Thiel und sein Team von der "Soko Amelie" vorgehen: Ein Spürhund folgt dem Weg der Frau von einer Kneipe, in der sie bis zu ihrem frühen Abschied gemeinsam mit der Schwester Geburtstag gefeiert hat. In einer Parkanlage entdeckt das Tier einen Ohrring; Thiel vermutet, dass Jonas seine Freundin hier getötet hat. Im Kofferraum seines Wagens finden sich zudem Fasern von Amelies verschwundener Lieblingsdecke sowie Blutspuren. Der Mann hat allerdings auf alle Fragen eine plausible Antwort. Hinweise auf ein mögliches Motiv gibt es ohnehin nicht, weshalb er alsbald wieder auf freiem Fuß ist.
Eine besondere Rolle spielt die Mutter der beiden Frauen; schon die Besetzung mit Martina Gedeck ist ein klares Signal. Dorothee Reinhard legt für Jonas ihre Hand ins Feuer, sie hält den Rettungssanitäter für einen guten Menschen. Thiel hat volles Verständnis dafür, dass die Frau sich nicht vorstellen kann, "wozu Menschen fähig sind; erst recht, wenn sie einem nahestehen." Auch Marie ist eine zentrale Figur, zumal sich der Kommissar fragt, ob ihm die spirituelle Verbindung, die eineiigen Zwillingen nachgesagt wird, bei seinen Ermittlungen helfen kann. In dieser Hinsicht erlaubt sich Grimme-Preisträger Imboden ("Mörder auf Amrum", 2010) die einzige Abweichung vom ansonsten kargen Stil, als Marie beim ausgelassenen Tanzen während der Geburtstagsfeier plötzlich zusammenbricht: Just in diesem Moment ist vermutlich ihre Schwester ermordet worden.
Die entsprechenden Bilder sind optisch so verfremdet, als ob Marie gerade einen Rausch erlebe. Die Ermittlungsebene hat Imboden dagegen betont sachlich inszeniert, weshalb auch hier kleine Ausreißer umso mehr Gewicht bekommen, etwa ein winziges Lächeln im Mundwinkel, mit dem Thiel die Rechtsmedizinerin dazu bringen will, dass sie schneller arbeitet; oder ein Blick und eine kleine Geste, die andeuten, dass er ein Verhältnis mit seiner Kollegin hat. Am 15. April zeigt das ZDF den jüngsten Ingo-Thiel-Krimi, "Briefe aus dem Jenseits".