Gisa in Düsseldorf
Britta Kirchner
Früher lebte Gisa auf der Straße, in Düsseldorf. Heute macht sie regelmäßig Stadtführungen und erzählt von dem Leben Wohnungsloser.
Stadtrundgang mit Wohnungslosen
"Freunde hat man auf der Straße nicht"
Wer auf der Straße lebt, sieht die Stadt aus einer ganz anderen Perspektive, als diejenigen, die aus einer Dreizimmerwohnung auf den Bordstein treten. evangelisch.de-Praktikantin Britta Kirchner hat an einer Stadtführung teilgenommen, bei der Wohnungslose Einblicke in ihr Leben geben.

Gisa und Heiko stehen vor dem Eckhaus und rauchen. Heiko – seinen Husky an der Leine - checkt die aktuellen Fußballergebnisse. Fortuna Düsseldorf spielt. Gisa ist pessimistisch, was einen Sieg ihres Herzensvereins angeht und soll Recht behalten. Sie kennt ihre Stadt eben gut. Besser als die meisten. Denn sie hat hier jahrelang auf der Straße gelebt. Bei einer Stadtführung offenbart sie 18 Fremden einen Blick in ihr Leben von damals.

Die Häuser, die die Gruppe betrachten wird, wirken von außen eher unscheinbar. Es geht nicht um Sehenswürdigkeiten, Museen oder Denkmäler. Stattdessen erzählen sie Geschichten von Drogensucht, Armut und Wohnungslosigkeit. Sie erzählen Geschichten von Gisa.

Die 57-Jährige hat ihre langen blonden, fast weißen Haare, zu einem tiefen Pferdeschwanz gebunden. Sie trägt einen lockeren Pulli und Jogginghose, für die sie sich gleich mehrfach entschuldigt. In ihre Jeans passe sie wegen einer Knieverletzung gerade nicht rein. Es ist ihr unangenehm. Sie kennt die Vorurteile gegenüber Obdachlosen: "Penner, Lügner, Betrüger, Diebe." Bei der Tour will sie zeigen, welche persönlichen Schicksale hinter den Stigmata stecken.

"Straßenleben – Ein Stadtrundgang mit Wohnungslosen" heißt das Projekt, das vom Straßenmagazin fiftyfifty und dem Kulturzentrum zakk ins Leben gerufen wurde. Die Obdachlosenzeitung fiftyfifty kennen die meisten Düsseldorfer:innen. Sie ist der Versuch einer "würdevolleren Alternative zum Betteln mit dem Becher" erzählt Niels Lenninghausen, Sozialarbeiter bei fiftyfifty. Die registrierten Verkäufer:innen kaufen die Zeitungen für den halben Preis ein und verdienen 50 Prozent am Gewinn – fiftyfifty eben. Heiko und Gisa kaufen jeweils zehn neue Zeitungen, bevor die Führung startet.

"Drogensucht ist was ganz Komisches"

"Immer dem Hund und dem komischen Typen hinterher". Gisa wirkt zunächst etwas ruppig. Dahinter steckt jedoch ihr trockener Humor. Insgesamt lebte Gisa acht Jahre auf der Straße. In die Obdachlosigkeit brachten sie "Großkotzigkeit, falsche Freunde und die Drogen". Mit 17 begann sie harte Drogen zu nehmen, machte eine erste Entgiftung, gründete sogar eine Familie, bekam Kinder, zu denen sie bis heute guten Kontakt hat. Das Datum, an dem sie wirklich abrutscht, hat sie genau im Kopf. Es ist der 26. Oktober 1992. Ihr Mann, der ein genauso großer Fußballfan war, wie sie, geht zum Spiel Fortuna gegen Karlsruhe und kommt nie zurück. Er wurde erstochen. "Drogensucht ist was ganz Komisches," erzählt sie ernst, "die nervt dich so lange, bis Du nachgibst". Sie greift zu wieder zu harten Drogen, verliert ihre Wohnung und landet letztlich auf der Straße.

Die etwas andere Touristengruppe bahnt sich den Weg in Richtung Innenstadt. Als die Gruppe bei der Straßenüberquerung von einer kreuzenden Straßenbahn getrennt wird, wartet Gisa geduldig. Mehrfach grüßt sie andere Menschen, während sie die Gruppe durch die Stadt navigiert. "Man kennt sich untereinander", sagt sie. "Freunde hat man auf der Straße nicht", betont sie jedoch. Alle sind mit sich beschäftigt. Viele hauptsächlich mit der Beschaffung von Drogen. Und Gisa ist ehrlich. Auf die Frage, was ihr durch die schweren Zeiten auf der Straße geantwortet hat, antwortet sie: "Der nächste Schuss."

In Düsseldorf gibt es einige Hilfsangebote für Obdachlose und Drogenabhängige, die Heiko und Gisa der Gruppe auf ihrem Weg durch die Stadt zeigen. Ihre Bewertungen variieren stark. "Da wird einem auch nicht geholfen, weil‘s denen egal ist", ist etwa das harte Urteil über eine Notunterkunft, an der die Führung Halt macht. Trotz des Frühlingswindes hängt nach den Erzählungen von den Zuständen in dieser speziellen Unterkunft der Geruch von Schimmel und Fäkalien in der Luft. Heikos Verzweiflung ist zu spüren, als er erzählt, dass ein Bewohner zwei Wochen tot im Zimmer gelegen habe, bevor es jemandem aufgefallen sei. Die Einrichtung sei auch bei Vermietern in Verruf: Wer sich mit der Adresse dieser Notunterkunft auf eine Wohnung bewerbe, der bekomme keinen Zuschlag.

"Ich habe drei Wochen auf dem Boden geschlafen."

Auch deswegen entwickelte fiftyfifty das Wohnungsprojekt "housing first" mit, das inzwischen 50 Wohnungen an ehemals Wohnungslose vermietet. Und zwar bedingungslos. Doch die Wartelisten sind lang. Heiko und Gisa hatten Glück. Beide haben eine Wohnung ergattert. "Ich habe drei Wochen auf dem Boden geschlafen.", gibt Gisa zu, die es vorher immer albern fand, wenn andere ihr ähnliches erzählten. "Das Sofa und das Bett, das war alles so weich."

Wie in vielen Großstädten, zieht die Gruppe immer wieder an Ecken mit Schlaflagern vorbei. Decken, Schlafsäcke, alles Hab und Gut in Plastiktüten verpackt. Dort bleiben wir nicht stehen, aber Gisa erzählt von einem ihrer Nachtlager, das sich im wahrsten Sinne in ihr Gedächtnis eingebrannt hat. Besonders die Jugendlichen seien erbarmungslos gewesen. "Die haben dann mal mit den Beinen ausgeholt und zugetreten: 'Oh, bist du wach?'" Mit einem Hohn in der Stimme, wiederholt sie die Worte, die früher ihr galten. Sie erzählt davon, wie auf ihre Schlafsäcke uriniert wurde. Die Zuhörer:innen lauschen angespannt. In der letzten Nacht kippten einige Menschen hochprozentigen Alkohol über die Schlafsäcke und zündeten sie an. "Die Schlafsäcke brennen kurz, schmoren aber lang.", fasst Gisa zusammen, "Das frisst sich mit dem Plastik in die Haut ein". Sie überlebt, "aber die Narben bleiben."

Die 57-Jährige Gisa macht Stadtführungen  beim Projekt "Straßenleben – Ein Stadtrundgang mit Wohnungslosen".

Gisa beschreibt die Wohnungslosigkeit als einen Managementjob: Wer die Lage sondiert, der weiß, wann es wo Hilfe gibt. Man muss sich sein Netzwerk aufbauen. Nach dem Brandanschlag fragt Gisa bei einer Supermarktkette, ob sie dort ihr Lager aufschlagen kann. Jeden Morgen schiebt sie die Einkaufswagen wieder an ihren Ort und räumt ihre Sachen weg. Niemand soll merken, dass dort jemand schläft. Mit dem Sicherheitspersonal trinkt sie gemeinsam Kaffee, die ihren Dienst beginnen, wenn sie aufsteht.

"Man braucht ja auch etwas zum liebhaben"

Es braucht ein Netzwerk, denn Obdachlosigkeit ist nicht billig. Ohne Kühlschrank, Mikrowelle oder Vorratsraum lebt es von der Hand in den Mund. Gerade deswegen wird Obdachlosen oft vorgeworfen, dass sie sich auch noch einen Hund anschaffen. "Man braucht ja auch etwas zum liebhaben", sagt Gisa und lacht. Doch dann wird sie wieder ernst. Denn auch zur Sicherheit sind Hunde wichtig, weil sie Wache halten. Besonders für Frauen ist das notwendig.

Gisa selbst habe sich nie prostituieren müssen. Die Gruppe steht auf einem engen Bürgersteig. Leute mit Kindern quetschen sich vorbei. Einige bleiben stehen, hören kurz zu. Nachts ist hier der Straßenstrich. "Die Freier werden immer dreister", erklärt sie. Sie nutzen die Drogensucht der Frauen aus, drücken damit die Preise. Wer weiß, dass die nächste Dosis zehn Euro kostet, hat eine gute Verhandlungsbasis. Im Winter kommen gezielt die Wohnungsfreier: Sex gegen Wohnung. Die Frauen sind den Männern vollkommen ausgeliefert. "Ich habe beim Fußball gelernt: Bäume und Männer fällt man von unten", sagt Gisa lachend und demonstriert scherzhaft an einer jungen Teilnehmerin den Tritt gegen das Schienenbein.

Einer der Teilnehmer der Tour hat beruflich öfter mit Wohnungslosen zu tun. Er ist Rettungssanitäter. Er weiß, dass einige seiner Kolleg:innen starke Vorurteile gegen Menschen in Obdachlosigkeit haben. "Die behandeln die dann auch schlechter", gibt er zu. Die vielen Fragen, die die Gruppe stellt zeigen, wie unsichtbar die Wohnungslose und Drogenabhängige in der Stadt sind. "Am schlimmsten ist die Gleichgültigkeit", stimmt Gisa zu. Nicht jeder muss etwas geben, aber zumindest hinschauen. Die Straßenführungen setzen ein Statement gegen die Unsichtbarkeit und Gleichgültigkeit.

Auf die Frage, was das Schwierigste am Leben auf der Straße sei, gibt Gisa eine klare Antwort: "Wieder rauszukommen und sich einzugestehen, dass man Hilfe braucht". Gisa hat es geschafft. "Ich bin dankbar, dass ich überhaupt noch lebe." 

Die Führung endet mit dem Blick auf die Johanneskirche, deren Gemeinde sich immer wieder an Aktionen beteiligt hat, um auf das Problem der Wohnungslosigkeit hinzuweisen. Wenn Gisa besonders viele Zeitungen verkauft hat, dann dankt sie Gott. Sie setzt sich allein in eine Kirche, zündet Kerzen an und betet. "Gutes und Barmherzigkeit werden mir folgen mein Leben lang, und ich werde bleiben im Hause des HERRN immerdar", zitiert Gisa frei aus Psalm 23. Es ist ihr Konfirmationsspruch. "Der da oben lässt mich nicht sterben, der hat noch irgendetwas mit mir vor."