Chaldäischer Gottesdienst
Anne Winter
Chaldäischer Gottesdienst der irakischen Gemeinde mit Pfarrer Raed Sharafana in Berlin.
Neue Heimat in der Diaspora
Christ:innen verlassen biblische Herkunftsländer
Wenn sich am sonntags diese Christ:innen zum Gottesdienst in wenigen ausgewählten Kirchen Berlins treffen, dann haben sie eines gemeinsam: Sie mussten ihre Heimatländer in Nahost verlassen, weil sie sich zum christlichen Glauben bekennen. Was sie erlebt haben, erzählen sie evangelisch.de.

Es ist Sonntag, kurz vor 12 Uhr. Die 73-jährige Sabiha und ihr Enkel sind überpünktlich zum Gottesdienst der chaldäischen-katholischen Mission erschienen. Im Eingangsbereich der schlichten Kirche im Südwesten Berlins betupfen sie sich mit Weihwasser und bekreuzigen sich. Dann verschwindet der 14-Jährige in der Sakristei, um sein Messdienergewand anzuziehen. Seine Großmutter nimmt in einer der vorderen Bänke Platz. Immer wieder schaut sie sich mit besorgtem Blick um: "Warum kommen so wenige? Das ist nicht gut", flüstert die Rentnerin. Schließlich sind drei Dutzend Gläubige versammelt, vor allem Familien, die oft einen langen Weg in Kauf nehmen, um an der Messe im chaldäischen Ritus teilzunehmen.
  
Die Gemeindemitglieder stammen ursprünglich aus dem Irak. Viele haben das Land nach dem Einmarsch der Amerikaner verlassen. Schätzungen zufolge sind die Hälfte der irakischen Christ:innen zwischen 2003 und 2006 geflohen. Damals kam es im Zuge des Krieges zu bürgerkriegsartigen Kämpfen zwischen Sunniten und Schiiten und zu islamistischen Terroranschlägen und schweren Übergriffen auf die christliche Minderheit.

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"Wir haben uns nicht mehr sicher gefühlt, überall waren Terroristen. Die wollten uns umbringen oder zwingen, Muslime zu werden", erinnert sich die 30-jährige Adra, deren Familie 2010 aus Bagdad geflohen ist. Auch der Pfarrer der chaldäischen Gemeinde, Raed Sharafana, kommt aus Bagdad. 2006 wurde er dort von radikalen Islamisten entführt und misshandelt. Erst nachdem der Patriarch ein hohes Lösegeld für ihn zahlte, ließen ihn die Entführer laufen. Im Irak aber wollte er danach nicht mehr bleiben, seine Kirche entsandte ihn nach Deutschland. 

"In 20 Jahren wird es keine Christen mehr im Irak geben"

Das Kernland des früheren Mesopotamiens, des biblischen Zweistromlandes, wird mehrfach im Alten Testament erwähnt. So ist die Großstadt Mossul das antike Ninive. Bereits im ersten Jahrhundert gab es im heutigen Irak christliche Gemeinden. Heute ist ihr Anteil an der Bevölkerung so klein wie nie zuvor. Nur noch eine Viertelmillion soll es sein, weit unter einem Prozent der Bevölkerung. Die meisten davon leben im kurdischen Autonomiegebiet im Nordirak. Die fehlende Rechtssicherheit, die wirtschaftliche Lage, das Gefühl von Schutzlosigkeit und ständiger Bedrohung - wenn sich an der Situation nichts ändere,  wird es schon in 20 Jahren keine Christ:innen mehr im Irak geben, fürchtet Raed Sharafana: "Ja, es kommen noch Leute zur Messe, aber in Mossul nur zehn bis 20, in Bagdad vielleicht 50 bis 100. Unsere Kirchen im Irak sind groß, wie eine Kathedrale - schöne Kirchen, aber es gibt keine Leute. Das ist eine Katastrophe für uns." Nur in der Diaspora hätten sie eine Zukunft. Nur gibt es ein Problem: "Die junge Generation versteht weder Aramäisch noch Arabisch. Wenn ich einen Jugendlichen frage, warum er nicht zur Kirche kommt, sagt er: "Ich verstehe nicht, was du predigst." 

Auf Aramäisch wird auch im Gottesdienst der syrisch-orthodoxen Gemeinde Mor Jacob Dasrug in Berlin Schöneberg gebetet und gepredigt. Die meisten der rund 200 Familien stammen ursprünglich aus dem Tur Abdin in der Türkei – zumindest die Älteren sprechen auch im Alltag eine moderne Form der Sprache Jesu. Pfarrer Murat Üzel hat viel Wert darauf gelegt, dass seine in Deutschland geborenen Kinder ebenfalls mit Aramäisch als Muttersprache aufwachsen. Doch nicht nur bei der jüngeren Generation ist das nicht mehr selbstverständlich. In den letzten Jahren sind einige neue Gemeindemitglieder aus Syrien und dem Irak hinzugekommen. Auch sie können dem Gottesdienst oft noch nicht richtig folgen. Deshalb wird über einen Beamer alles auf Aramäisch, auf Arabisch und auf Deutsch auf eine Leinwand projiziert. 

Jeden Samstagabend bietet Diakon Amill Gorgis eine Bibelstunde auf Arabisch für die Geflüchteten an. Der Rentner stammt selbst aus Syrien. 2010 machten die Christ:innen dort etwa 10 Prozent der Bevölkerung aus. Der Krieg hat rund ein Viertel der Menschen aus Syrien vertrieben, darunter die Hälfte aller Christ:innen. "Wenn sie die Möglichkeit hätten, würden alle hierherkommen, weil die Situation nicht mehr auszuhalten ist. Es findet eine Mono-Ethnisierung statt. Man versucht, die Minderheiten zu vertreiben," sagt Amill Gorgis. Neben der instabilen Lage und der desolaten wirtschaftlichen Situation komme für die Christ:innen noch hinzu, dass die muslimische Mehrheit immer intoleranter werde: "Die ganze Gesellschaft hat sich mehr islamisiert. Der politische Islam hat in vielen Teilen Syriens an Einfluss gewonnen." In den Großstädten würden die Christ:innen zunehmend aus ihren Vierteln verdrängt, sagt Amill Gorgis. Frauen ohne Kopftuch würden sofort als Christinnen erkannt und oft auch belästigt. Nur in mehrheitlich von Christ:innen bewohnten Dörfern sei christliches Leben in Syrien noch weitgehend möglich. 

In Berlin tut die syrisch-orthodoxe Gemeinde viel, um gerade die jungen Menschen an sich zu binden. Es gibt Sprach- und Bibelunterricht, einen Chor und diverse Freizeitangebote. Das zahlt sich aus. Die Gemeinde wächst. Anders als in der Türkei. Von den 100.000 Christ:innen verschiedener Konfessionen lebten nur die wenigsten in ihrem Ursprungsgebiet, die größte Gemeinde ist in Istanbul, sagt Pfarrer Üzel: "Wir haben ungefähr 16.000 Familien in Istanbul und im ganzen Tur Abdin haben wir ungefähr 1.500 Familien. Im Tur Abdin sind viele Dörfer und Städte leer." 

Neben der syrisch-orthodoxen Kirche von Antiochien gibt es noch eine zweite orientalische Kirche, die aus dem Urchristentum in Antiochia, dem heutigen Antakya in der Südosttürkei, entstanden ist. Die rum-orthodoxe Kirche von Antiochia führt ihre Gründung auf Petrus und Paulus zurück. In Berlin hat die rum-orthodoxe Gemeinde eine ehemals evangelische Kirche übernommen und   
mit zahlreichen goldschimmernden Ikonen ausgestattet – so wie die Gläubigen es aus ihren Herkunftsländern gewohnt sind. Die Mitglieder der panarabischen Gemeinde von St. Georgios stammen aus Syrien, dem Libanon, dem Irak, Jordanien, aus der Türkei und aus Palästina. Der Deutsch-Palästinenser Nicola ist Anfang 30. Seine Kindheit hat er in Beit Sahour nahe Bethlehem verbracht. Wenn er erzählt, wie es war, am Schauplatz der Weihnachtsgeschichte zu leben, kommt er ins Schwärmen: "Es ist der heiligste Ort dort, man spürt die Verbindung mit der Religion. Ich empfehle jedem, den ich kenne, da mal hinzugehen, weil dort kann man wirklich alles nachverfolgen, was in der Bibel steht."  

Doch selbst in Bethlehem sind die Christ:innen nur noch eine Minderheit unter ihren  muslimischen Nachbarn. Und es werden immer weniger: Im ganzen Heiligen Land macht der christliche Bevölkerungsanteil schätzungsweise zwischen ein und zwei Prozent aus. Wenn er einmal Kinder hat, möchte Nicola sie im rum-orthodoxen Glauben erziehen. Auch nach Bethlehem will er mit ihnen reisen. Auf die Frage, ob er sich vorstellen könnte, selbst dorthin zurückzukehren, sagt der Ingenieur: "Vor ein paar Jahren hätte ich mit ja geantwortet. Jetzt bin ich mir nicht mehr sicher. Wenn es nach meinem Wunsch ginge, würde ich gerne. Aber ich weiß, dass das Leben dort nicht einfach ist."