Die meisten Menschen haben sich schon mal überlegt, wie sich ihr Dasein wohl entwickelt hätte, wenn sie an einem bestimmten Punkt ihres Lebensweges anders verhalten hätten. Nicht selten werden solche Überlegungen durch einen Schicksalsschlag ausgelöst; und davon handelt die sechsteilige Serie "Reset". Der Titelzusatz "Wie weit willst du gehen?" bezieht sich auf das unerwartete Angebot, einen Suizid zu verhindern: Luna, die fünfzehnjährige Tochter der seit zehn Jahren überaus populären TV-Moderatorin Floriane "Flo" Bohringer (Katja Riemann), hat sich das Leben genommen.
Kurz darauf drückt eine fremde Frau der trauernden Mutter einen Zettel mit einer Telefonnummer in die Hand: Eine Agentur namens "Plan B" biete die Möglichkeit an, in der Zeit zurückzureisen. Offenbar ist die Unbekannte selbst eine Zeitreisende, denn sie kann exakt vorhersagen, wie sich ein Politiker am nächsten Tag während eines Interviews verhalten wird. Flo wählt die Nummer, entscheidet sich für ein Datum drei Wochen vor Lunas Tod, zahlt die verlangte Gebühr und landet in der Tat zum gewünschten Zeitpunkt in der Vergangenheit. Das Schicksal lässt sich jedoch nicht so ohne Weiteres in die Karten greifen; sie muss noch weiter zurückreisen.
Tilmann P. Gangloff, Diplom-Journalist und regelmäßiges Mitglied der Jury für den Grimme-Preis, schreibt freiberuflich unter anderem für das Portal evangelisch.de täglich TV-Tipps und setzt sich auch für "epd medien" mit dem Fernsehen auseinander. Auszeichnung: 2023 Bert-Donnepp-Preis - Deutscher Preis für Medienpublizistik (des Vereins der Freunde des Adolf-Grimme-Preises).
Die Drehbücher von Ingrid Kaltenegger (Folgen eins bis drei) und Mika Kallwass (vier bis sechs) basieren auf der kanadischen Serie "Plan B", erzählen aber abgesehen von der Zeitreise eine völlig andere und vor allem sehr weibliche Geschichte: Hauptfigur der Vorlage ist ein Anwalt, der seine Beziehung retten will. "Reset" hat ungleich mehr Relevanz: Flo ist eine Ikone des Feminismus und das Gesicht einer Kampagne gegen Gewalt, die von Männern an Frauen verübt wird. Prompt reagiert sie entsprechend empört, als nicht zu übersehen ist, dass Luna von ihrem Freund gewürgt und geschlagen worden ist; aber ihre wütende Reaktion macht alles nur noch schlimmer.
Als der erste und der zweite Rettungsversuch scheitern, reist Flo noch viel weiter zurück und trifft mit dem Verzicht auf ihre Karriere eine Entscheidung, die erhebliche Konsequenzen für sämtliche Menschen in ihrer Umgebung hat: Ehemann, Kinder, Kolleginnen, die beste Freundin. Auf diese Weise gelingt es ihr tatsächlich, das Schicksal auszutricksen, allerdings zu einem hohen Preis. "Reisen Sie nicht zu weit zurück", hatte die Fremde sie gewarnt.
Die Geschichte ist hochgradig fesselnd, die sorgfältige Bildgestaltung (Jieun Yi) bildet mit ihren weichen, warmen Farben einen reizvollen Kontrast zur über weite Strecken sehr düsteren Geschichte, die Mitwirkenden sind ausnahmslos vorzüglich; gerade die Leistungen von Katja Riemann und Hannah Schiller als Tochter sind preiswürdig. Die junge Schauspielerin hat ihr Talent schon oft unter Beweis gestellt; ganz famos war sie unter anderem in "Parasomnia" (2020), einem herausragend guten "Tatort" aus Dresden über ein Mädchen, das zwischen Traum und Wirklichkeit wandelt. Wie sie in "Reset" Lunas zunehmende Depression sowie wechselnde Emotionen wie Zorn und Verzweiflung verkörpert, ist gleichermaßen berührend wie bedrückend. Mit viel Empathie schildern Kaltenegger und Kallwass sowie Isa Prahl (Regie eins bis drei) und Eoin Moore (vier bis sechs), wie Luna immer tiefer im Sumpf versinkt; Flos strahlender Erfolg führt ihr die eingebildete Minderwertigkeit umso mehr vor Augen.
Bei allem Respekt für den Mut der Beteiligten, sich auf derart ungewöhnliche Weise mit dem Themenkomplex "Kinder oder Karriere" auseinanderzusetzen: In anderer Hinsicht ist "Reset" eine Enttäuschung, zumindest für Genre-Fans, denn wie die Zeitreise funktioniert, bleibt ebenso offen wie die Frage, wer sich hinter der Zeitreiseagentur verbirgt. Flo überweist eine stolze Summe und wird von zwei Männern abgeholt, die ihr einen Sack über den Kopf stülpen und sie unsanft in einem Transporter deponieren; dann folgt auch schon der Umschnitt in die Vergangenheit.
Die Drehbücher konzentrieren sich ausschließlich auf die dramatischen Aspekte, Science-Fiction spielt keinerlei Rolle. Bei den sonstigen Details sind die Beteiligten allerdings mit großer Sorgfalt vorgegangen, zumal gerade die alternativen Entwicklungen im Vergleich zur anfänglichen Gegenwart viel Vergnügen bereiten. Das gilt unter anderem für die anders als zuvor keineswegs gescheiterte Ehe (Thomas Loibl spielt den Gatten) und das gestörte Verhältnis zwischen Luna und ihren älteren Bruder; Paul Ahrens’ Leistung ist ähnlich bemerkenswert wie zuletzt in der ZDF-Serie "Was wir fürchten" (2023). Angesichts der herausragenden Gesamtqualität ist der regelmäßige "Herzkino"-Schmusepop fast schon ärgerlich.
Im Anschluss an jede Folge werden Kontaktmöglichkeiten zu Hilfsorganisationen eingeblendet. Das "Zweite" zeigt die sechs Folgen heute, übermorgen und Donnerstag ab 20.15 Uhr, die Serie steht bereits in der ZDF-Mediathek.