Plötzlich war für Seemann Dodong Dela Cruz nichts mehr wie vorher. Der junge Mann von den Philippinen gehörte zur siebenköpfigen Besatzung des unter britischer Flagge fahrenden Schiffs "Verity". Am 24. Oktober 2023 gegen 5 Uhr kollidierte sein Schiff in der Deutschen Bucht mit dem Massengutfrachter "Polesie". Beide Schiffe stießen etwa zwölf Seemeilen südwestlich der Insel Helgoland zusammen. Die "Verity" sank. Nur zwei Besatzungsmitglieder konnten gerettet werden: Dodong Dela Cruz und sein ukrainischer Kollege Olexandr Tschuk.
Ihre Namen sind geändert worden, um die Privatsphäre der beiden Seeleute zu schützen. Denn: Zwar sind sie gerettet worden. Doch für die Verarbeitung der Ereignisse an diesem 24. Oktober als Überlebende dürften Dodong Dela Cruz und Olexandr Tschuk noch einige Zeit benötigen. "Für die Betroffenen ist es eine traumatische Erfahrung", sagt Martin Struwe, Diakon und Leiter der Seemannsmission Cuxhaven. Er und seine Kolleg:innen aus Bremerhaven und Emden haben das Unglück sozusagen hautnah miterlebt. Struwe war während dieser Lage wie schon oft als Fachberater des Havarie-Kommandos für Psychosoziale Notfallversorgung (PSNV) eingesetzt.
Seit rund 15 Jahren kooperieren die Deutsche Seemannsmission (DSM) und das Havarie-Kommando in diesem Bereich. Dahinter steht die Erkenntnis, dass Menschen nicht nur an Land zum Beispiel durch den Tod eines Angehörigen sogenannten außergewöhnlichen Belastungen ausgesetzt sind und betreut werden müssen. Bei Unglücken auf See ist es genauso. Seeleute seien mehrfach betroffen, erklärt Struwe. Sind sie doch in einem fremden Land auf sich gestellt – keine helfenden Familienangehörigen vor Ort, eine fremde Sprache und in seltenen Fällen ohne Kleidung und Geld. "Ihnen fehlt der Boden unter den Füßen", sagt der Seemannsdiakon.
Die Seemannsmission Bremerhaven und ihre Mitarbeitenden waren für Dodong Dela cruz und Olexandr Tschuk deshalb so etwas wie eine Ersatzfamilie. Beide kamen im Seemannshotel unter, es gab Bekleidung, vor allem aber Hilfe bei der Verarbeitung ihrer belastenden Erlebnisse. Und sollte es notwendig sein, bekommen die beiden Seeleute in ihren jeweiligen Heimatländern weitere Hilfe. Dies sei durch das den Globus umspannende Netzwerk der Deutschen Seemannsmission, zu denen auch das katholische Pendant "Stella Maris" gehört, möglich, erklären Struwe und Dirk Obermann, PSNV-Koordinator der Deutschen Seemannsmission.
Nachdem im Oktober 2023 das Havarie-Kommando die Gesamteinsatzleitung übernommen hatte, trat der Havariestab zusammen. Dies geschieht innerhalb von 45 Minuten. Bevor jedoch die eigentlichen Rettungsmaßnahmen anlaufen, würden alle Beteiligten die Informationen über die aktuelle Situation bekommen, erläutert Dorothea Wichterich, PSNV-Koordinatorin des Havarie-Kommandos: "Dazu gehört auch ein psychosoziales Lagebild. Aber Menschenrettung hat immer Vorrang!"
Im Fall des Zusammenstoßes und des Untergangs der "Verity" mit der "Polesie" liefen alle Such- und Rettungsmaßnahmen wie üblich in der von der Deutschen Gesellschaft zur Rettung Schiffbrüchiger (DGzRS) betriebenen deutschen Rettungsleitstelle See, dem Maritime Rescue Co-ordination Centre (MRCC) Bremen, zusammen. Neben acht eigenen Rettungseinheiten der DGzRS unterstützten mindestens acht Behörden und auch ein Kreuzfahrtschiff die Seenotretter.
Dodong Dela Cruz und Olexandr Tschuk wurden nach ihrer Rettung an den Landrettungsdienst übergeben. Die Seemannsmission war zum diesem Zeitpunkt bereits vom Havarie-Kommando mit der Betreuung der beiden Seeleute beauftragt worden – auch dies gehört zu den Aufgaben. "Das Havarie-Kommando organisiert, initiiert und koordiniert", sagt Wichterich. Seemannsdiakon Struwe ergänzt, dass die Seemannsmission eine Doppelfunktion habe: Sie sei Berater im Stab und kümmere sich um verunglückte Seeleute. "Bei Bedarf ziehen wir Leute von mehreren Standorten zusammen."
Es sei stets wichtig, den Seeleuten klarzumachen, dass alle gleich behandelt werden, unterstreichen Struwe und Obermann. Denn: Es gibt innerhalb einer Besatzung zum Beispiel Irritationen bezüglich der medizinischen Behandlung an Land. Diese Situation hatten die Mitarbeitenden der Seemannsmission beispielsweise im Mai 2015 zu bewältigen. Der Mehrzweckfrachter "Purple Beach" war mit einer Ladung Düngemittel auf dem Weg von Antwerpen nach Brake. Als das 192 Meter lange und knapp 27 Meter breite Schiff auf Reede in der Deutschen Bucht lag, entzündete sich das Düngemittel. Die Besatzung musste die "Purple Beach" verlassen und wurde von der Seemannsmission betreut. In einem Fall wie diesem sei die Kommunikation sehr wichtig, sind sich Wichterich, Struwe und Obermann einig. Am Ende, erinnert sich der Cuxhavener zurück, hätten die Seefahrer begriffen: Alle werden gleich behandelt. "Wir geben den Menschen die Sicherheit, dass sie gut versorgt werden. Das hat Vorrang!"
Seelische Notfallversorgung für Überlebende auf See
Zwar ist Psychosoziale Notfallversorgung sozusagen ein Stück Alltagsgeschäft beziehungsweise Kernaufgabe im Selbstverständnis der Seemannsmission und des Havarie-Kommandos. Doch dies ist längst noch nicht bei allen Menschen insbesondere innerhalb der Reedereien oder auch Schiffsmaklern angekommen. Immerhin: Dies ändert sich langsam. Dafür sorgt auch PSNV-Koordinator Obermann. Seine Funktion innerhalb der Deutschen Seemannsmission ist denn auch mit drei Jahren recht neu. Psychosoziale Notfallversorgung "hat auch etwas mit Mental Health, der seelischen Gesundheit, zu tun", sagt Obermann. Diese spiele seit der Corona-Pandemie eine größere Rolle in der Seefahrt.
PSNV-Koordinatorin Wichterich hat ähnliche Beobachtungen gemacht wie Struwe und Obermann. Sie weist darauf hin, wie wichtig gerade auch Maßnahmen sind, die "mit Bordmitteln" ergriffen werden können, sollten Menschen auf einem Schiff mit belastenden Ereignissen konfrontiert sein. Die Relevanz der psychosozialen Notfallbegleitung auf See findet inzwischen auch Eingang in die nautische Aus- und Weiterbildung in Deutschland.