"Sie wurden während der Pandemie zu Zuschauern des Lebens", sagt Götz Schwope dem Evangelischen Pressedienst. Die Folge seien Vereinsamung, Ängste und Sozialphobien, so der Kinder- und Jugend-Psychotherapeut. Die sich an Corona anschließenden Krisen wie der Ukraine-Krieg, die Energiekrise, der Angriff auf Israel und die Zunahme radikaler Äußerungen im öffentlichen Raum führen Schwope zufolge zusätzlich dazu, dass Familien nicht zur Ruhe kommen und zunehmend erschöpft sind. Zudem seien Lockdowns und Kontaktbeschränkungen in etlichen Familien eine ungesunde Allianz mit der digitalen Welt eingegangen.
Bei Mädchen seien es eher die sozialen Netzwerke, bei Jungen Computerspiele, sagte Schwope, der seit 25 Jahren im niedersächsischen Stadthagen niedergelassen ist: "Ich habe 14-jährige Patienten, die regelmäßig acht Stunden am Tag am Computer sitzen." Die Gaming-Industrie habe sich die teenagertypische Abenteuerlust geschickt zunutze gemacht und "hochattraktive" Spielangebote geschaffen, sagt Schwope. "Das analoge Leben mit seinen Frustrationen und Herausforderungen kann da nicht mithalten."
Eine Folge des Rückzugs aus der realen Welt sind laut Schwope bei beiden Geschlechtern depressive Episoden. Bei den Jungen kämen Diagnosen wie Adipositas und "Gaming Disorder" (Computerspiel-Sucht) dazu, bei den Mädchen Essstörungen wie Bulimie und Magersucht sowie selbstverletzendes Verhalten. Für die seelische Gesundheit der Jugendlichen sei es wichtig, dass sie auch außerhalb der Schule in analoge Bezüge eingebunden seien, erläutert Schwope. "Ich frage bei meinen Therapien immer: Hat das Kind Hobbys, ist es in einem Sportverein, spielt es ein Instrument?"
An die Eltern appelliert der Psychotherapeut, ihren eigenen digitalen Konsum kritisch zu reflektieren und ihre Vorbildrolle ernstzunehmen. Viel zu häufig und viel zu früh würden bereits Kleinkindern Handys oder Tablets in die Hand gegeben. "Das ist zwar verständlich, denn so haben Mütter und Väter mal für einen Moment Ruhe. Doch diese kurzfristige Alltagsentlastung hat einen hohen Preis."
Damit eine "zieldienliche Kommunikation" gelinge, müssten Eltern sich klarmachen, dass sie im Übergang vom Kindheits- zum Jugendalter nicht mehr "durchregieren" könnten, sagt Schwope. Eltern dürften Konflikten mit ihren Kindern nicht aus dem Weg gehen: "Sie müssen für die notwendigen Auseinandersetzungen zur Verfügung stehen - das ist anstrengend, gehört aber zur Erziehung dazu."