Das sei jedoch nur die "Spitze der Spitze des Eisbergs". Es gebe Kenntnisse über weitere Fälle, die aufgrund fehlender Informationen nicht hätten strukturiert erfasst werden können, heißt es in der Mitteilung des Forscherteams. Untersucht wurden den Angaben zufolge flächendeckend nur Disziplinarakten. Bislang war nur bekannt, wie viele Betroffene sich in den vergangenen Jahren an die zuständigen Stellen der Landeskirchen gewandt haben. Nach Angaben der EKD waren das 858.
Die EKD hatte das Forschungsvorhaben vor drei Jahren beauftragt, mit dem Wunsch, mehr über Ausmaß und mögliche strukturelle Ursachen von Missbrauch zu erfahren. Die Studie bescheinigt der evangelischen Kirche spezielle Risikofaktoren, räumt aber mit dem Gedanken auf, dass die sich auf spezielle Bereiche wie die bereits umfangreich aufgearbeitete frühere Heimerziehung oder liberale Sexualitätsdiskurse der 1970er Jahre eingrenzen lassen. In nahezu allen Angeboten und Bereichen der evangelischen Kirche habe man eine Vielzahl von Fällen nachweisen können, konstatieren die Forscher.
Eklatante Defizite erkennt die Studie beim Umgang mit Missbrauchsfällen, insbesondere mit den Opfern. Forschungsleiter Martin Wazlawik verwies dabei auf Strukturen, die teilweise zum Kern der evangelischen Identität gehören. Die viel beschworene Vielfalt der Protestanten habe Nachteile für evangelische Betroffene, sagte der auf Kinder und Jugendhilfe spezialisierte Professor. Der Föderalismus mit 20 Landeskirchen führe dazu, dass mit Betroffenen unterschiedlich umgegangen werde.
Wazlawik sprach zudem von "Verantwortungsdiffusion und Verantwortungsdelegation" und bescheinigte der evangelischen Kirche "Konfliktunfähigkeit" und einen "Harmoniezwang", die Aufklärung im Weg stünden. Er sprach sich für verbindliche Interventionsverfahren und eine einheitliche Ombudsstelle für Betroffene aus.
Bei den konkreten Fällen, die für die Studie betrachtet wurden, war die Mehrzahl der Täter männlich. Wazlawik verwies auf die besondere Rolle von Pfarrern und des evangelischen Pfarrhauses, das nicht nur Wohnort der Pfarrfamilie, sondern auch geschützte Institution sein. Pfarrern als Täter habe es damit eine "doppelte Absicherung" gegeben.
Die amtierende EKD-Ratsvorsitzende Kirsten Fehrs sagte bei der Vorstellung der Studie: "Wir haben uns auch als Institution an unzählig vielen Menschen schuldig gemacht. Und ich kann sie, die sie so verletzt wurden, nur von ganzem Herzen um Entschuldigung bitten." Diese Bitte um Entschuldigung könne nur glaubwürdig sein, "wenn wir auch handeln und mit Entschlossenheit weitere Veränderungsmaßnahmen auf den Weg bringen". "Wir haben diese Studie gewollt, wir haben sie initiiert und wir nehmen sie an, mit Demut", sagte Fehrs.
Für die Diakonie Deutschland äußerte sich deren Präsident Rüdiger Schuch zu den Ergebnissen: "Die Institution Diakonie hat in ihrem Schutzauftrag hier versagt. Das ist für uns erschütternd. Wir erkennen das begangene Unrecht an und wir übernehmen Verantwortung. Jeder Fall ist ein Fall zu viel."
"Wir werden in der Diakonie die Ergebnisse der ForuM-Studie umgehend analysieren und mit unseren Landesverbänden Konsequenzen ziehen. Wir sind entschlossen, die gesamte Praxis und Kultur der Arbeit in unserem Verband, in unseren Einrichtungen und Diensten zu prüfen – und wo es nötig ist, auch tiefgreifend zu verändern", sagte Schuch.
Der Deutsche Evangelische Kirchentag will Empfehlungen an Kirche und Diakonie übernehmen. Dies gelte für Empfehlungen, die auf den Kirchentag übertragbar seien, erklärte Kirchentags-Generalsekretärin Kristin Jahn am Donnerstag in Fulda. Auch der Kirchentag sei ein Ort für Menschen gewesen, die sexualisierte Gewalt ausgeübt, gedeckt, ermöglicht oder relativiert hätten.
Betroffene: Studie verpflichtet zum Handeln
Dorothee Wüst, Sprecherin der kirchlichen Beauftragten im Beteiligungsforum, stellte die Unzweideutigkeit der Ergebnisse heraus: "Die Studie legt deutlich den Finger in die Wunde institutionellen und persönlichen Versagens, das ist erschütternd und muss anders werden."
Detlev Zander, Sprecher der Betroffenenvertretung, machte auf die weitreichenden institutionellen Änderungen aufmerksam, die sich aus der Studie ergeben: "EKD und Diakonie haben Verantwortung für die Fehler der Vergangenheit und auch der Gegenwart zu übernehmen. Selbstbindung und Selbstverpflichtung sollten eine Selbstverständlichkeit sein, um einen deutlichen und klaren gemeinsamen Weg zu gehen."
Nancy Janz, Sprecherin der Betroffenenvertretung, formulierte ihre Erwartungen so: "Jetzt kommt es darauf an, dass EKD und Diakonie ins Handeln und Umsetzen kommen. Es braucht einen angemessenen Umgang bei Meldungen von Fällen, deren Aufklärung, Anerkennung und Aufarbeitung. Damit dies deutlich spürbar bei Betroffenen ankommt, braucht es unabdingbar den Willen der Institution, maßgebliche Änderungen zuzulassen."
Bundesfamilienministerin Lisa Paus (Grüne) erklärte, mit den Studienergebnissen sei es Gewissheit, dass auch in evangelischen Pfarrhäusern, Gemeinden und diakonischen Einrichtungen vielerorts Bedingungen geherrscht hätten, die Machtmissbrauch und sexualisierte Gewalt begünstigten. Der SPD-Politiker Lars Castellucci forderte, auch in anderen gesellschaftlichen Bereichen Aufklärung zu betreiben und nannte konkret eine Dunkelfeldstudie. "So viel Kritik die Kirchen auch berechtigterweise einstecken müssen, so richtig ist es, dass sie auch mit den schmerzlichen Erfahrungen der Aufarbeitung Vorreiter gegenüber anderen gesellschaftlichen Bereichen sind", sagte er.