In der Kirche ist es dunkel. Nur durch die großen Fenster an den Seiten und im Altarraum fällt Licht hinein. Wer die Bremer Stadtkirche "Unser Lieben Frauen" (ULF) betritt, ist praktisch sofort von der herrschenden fast mystischen Stimmung gefangen. Die Menschen nehmen um die im Quadrat angeordneten Bänke Platz und lassen das wirken, was hier seit dem Valentinstag geschieht.
"Platsch! Platsch!" Wassertropfen fallen in eine große metallene Schale.
Die Blicke der Besucher richten sich nach oben. Dort, unter der Decke in einem Spezialnetz, hängt eine Eispyramide. 330 Kilogramm wog sie noch vor wenigen Tagen, die Seitenlänge betrug jeweils einen Meter. Jetzt schmilzt das Objekt Tropfen für Tropfen ab. Die Menschen genießen den Moment. Still oder mit ihren Nachbarn flüsternd sitzen sie in den Bänken oder stehen im weiten Kirchenraum. Anschließend machen sie Fotos oder Videos mit ihren Smartphones. Die Eispyramide wechselt beim Abschmelzen immer wieder die Farbe. Dafür sorgen moderne LED-Scheinwerfer am Boden. Zum Lichtspiel gehört auch, dass sich die Kirchenfenster in ihrer ganzen Schönheit im Wasser, das sich in der Schale gesammelt hat, brechen und spiegeln.
"Eternity", auf Deutsch "Ewigkeit", heißt die Installation der Münchner Künstlerin Birthe Blauth. Es ist nicht ihr erstes Projekt dieser Art – schon mehrmals zeigte sie ihre Arbeiten parallel zur Kasseler "Documenta" in der Elisabethkirche. Dort wurde ULF-Pastor Stephan Kreutz auf sie aufmerksam. Künstlerin und Pastor und auch der Bremer Kirchenvorstand waren sich schnell einig, auch in Bremens ältester Innenstadtkirche ein derartiges Kunstprojekt auf die Beine zu stellen.
"Eternity" schmilzt schneller
Die Besucher sind hin und weg. Jedoch: Die vorfrühlingshaften Temperaturen in Norddeutschland sorgen dafür, dass alles anders kommt als gedacht: "Eternity" war eigentlich als Projekt für den kompletten März beziehungsweise die Passionszeit, angesetzt. Doch bei 14 Grad Celsius in der Kirche schmilzt und tropft es viel schneller. Künstlerin Blauth und Pastor Kreutz befürchten gar, dass Anfang kommender Woche nicht mehr als das Netz zu sehen sein wird, in dem die Eispyramide liegt.
Sorgenfalten indes haben beide nicht, im Gegenteil: Die Künstlerin und der Geistliche freuen sich über den großen Zuspruch der Menschen aus Bremen. Eine Gruppe Damen der Liebfrauen-Gemeinde unterhält sich mit ihrem Pastor. Sie alle freuen sich über "Eternity". Es sei schön, so etwas dauerhaft in der Kirche zu haben, die Schale sehe aus wie ein Taufbecken. Er werde den Kirchenvorstand befragen, verspricht Kreutz.
Eine Bankreihe hinter den Damen der Gemeinde sitzt Susann Kuschmann. Sie ist aus dem niedersächsischen Walsrode mit ihrer Schwester und ihrem Freund zu einem Tagesbesuch in Bremen. Sie haben sich alle in Decken eingemummelt und genießen die Atmosphäre, die durch Proben für die demnächst aufgeführte "Johannespassion" untermalt wird. Kuschmann findet: "Das ist wie Urlaub vom Alltag." Und: "Wir genießen die Ruhe."
"Für mich ist es an erster Stelle Veränderung"
Künstlerin Blauth führt an diesem Nachmittag viele Gespräche – unter anderem mit Inge Ustrunl und Heinz Hoffmann. Das Paar ist so begeistert von dem, was die Künstlerin macht, dass beide extra aus Kassel angereist sind. Ustrunl und Hoffmann kennen Blauth durch ihre Projekte in der Kasseler Elisabethkirche. Dort zeigt die Künstlerin parallel zur Documenta ziemlich erfolgreich ihre Installationen.
"Für mich ist es an erster Stelle Veränderung", antwortet Neumann auf die Frage nach der Bedeutung von "Eternity" beziehungsweise der Eispyramide. Es sei interessant zu beobachten, was die Umgebung mit der Pyramide sowie der Kunst überhaupt macht. Den Kasseler begeistert, dass Blauth ihre Installationen immer mit der Architektur und dem Hintergrund des jeweiligen Raumes verbinde. "So etwas wie hier funktioniert nur in Unser Lieben Frauen", sagt Neumann.
"Mich fasziniert dieser Farbwechsel. Das hätte ich nicht für möglich gehalten", meint Ustrunl. Sie und ihr Partner denken dabei indes nicht über Veränderungen von kirchlichen Strukturen nach. Beide seien nur an der Kunst interessiert und reflektierten diese auf den Alltag, der ständige Veränderungen bedeute. So blickt auch Blauth auf ihr Werk. "Die Bedeutung ist immer sehr vielschichtig. Jeder kann seine Deutung herauslesen und weitere entdecken", wird sie in der Medienmitteilung der Bremischen Evangelischen Kirche (BEK) zitiert. "Eternity" sei nicht Symbol für irgendetwas, kein Appell, und keine Mahnung.
"Eternity": Installation in einem besonderen Raum
Diese Sicht bekräftigt die Künstlerin im Gespräch. Der Kirchenraum ist für Blauth ein Installationsraum, aber ein besonderer. Nachdem Kreutz sie bei der "Documenta" ansprach, sei das Projekt im Oktober 2022 mit dem ersten Besuch in Bremen gewachsen – mit allem, was dazugehört. Dies sind solche auf den ersten Blick profane aber notwendige Dinge wie Statik-Berechnungen oder Nachfragen bei Herstellern von Netzen und Tauen, die das Gewicht der Eispyramide tragen können. Die konkreten Arbeiten hätten im Frühjahr 2023 begonnen.
Dass die Pyramide "Eternity" heißen wird, war zu diesem Zeitpunkt noch nicht klar. Denn: Blauth gestaltet erst das Objekt und sucht im zweiten Schritt nach einem Namen. "Es ,Vergänglichkeit’ oder ,Pyramide’ zu nennen, wäre falsch", sagt sie, "bei ,Eternity’ ist alles noch da." Ewigkeit impliziert auch Vergänglichkeit. Diese sieht Blauth so: "Vergänglichkeit ist für mich, dass Bestehendes entschwindet, und daraus wieder neues entsteht." Das Gespräch wird kurz von einem begeisterten Besucher unterbrochen. "Kompliment, ich finde die Arbeit ganz fantastisch! Es ist wirklich eine ganz schöne Arbeit", lässt der Mann, der nach eigenen Worten früher "selbst als Künstler gearbeitet" hat, seinen Glücksgefühlen freien Lauf.
ULF-Pastor Kreutz ist nicht nur von der Installation selbst fasziniert. Ihn erfreut vielmehr, wie die Besucher der Kirche "Eternity" aufnehmen: "Das finden wir klasse, dass die Menschen mit etwas konfrontiert werden, was man sonst schon kennt." Damit meint er das eher ungewöhnliche Arrangement des Raumes. Logisch, dass Kreutz auch einen Bezug zur Kirche und zu notwendigen Veränderungen der Institution sieht – Stichwort Vergänglichkeit: "Wenn feste Strukturen schmelzen und weiches Wasser daraus wird, kann ich darin nichts Negatives sehen."