Den Kirchen laufen die Mitglieder davon. Ganz anders ist der Zuspruch beim Religionsunterricht. "Die Wirklichkeit in den Schulen ist eine andere als die Kritik in den sozialen Medien", sagt der Theologe Andreas Obenauer dem Evangelischen Pressedienst.
Als Kirchenrat ist Obenauer in der Evangelischen Landeskirche in Baden (Karlsruhe) zuständig für Lehrerbildung, Schule und Gemeinde. Gerade in Grundschulen seien "alle Gruppierungen beieinander", weiß er. Auch Kinder aus religionskritischen Elternhäusern nähmen am konfessionellen Unterricht teil.
Einen Grund dafür sieht der Theologe im Inhalt des Faches: "Hier werden wichtige Themen verhandelt." Ein großes Thema sei der Tod. Aber auch Krankheit, Krieg und Frieden, der Schutz der Umwelt, das Zusammenleben in der Familie kommen in "Reli" zur Sprache. Das alles sind emotional schwierige Themen. "Es ist gut, dass sie im Religionsunterricht aufgehoben sind", betont Obenauer. Eltern hätten oft Angst vor diesen Themen oder würden es aus eigener Betroffenheit vermeiden, sie anzusprechen.
Pfarrerin Anke Mühlenberg-Knebel aus Bühlertal-Untertal (Kreis Rastatt) bestätigt dies. Sie unterrichtet vier Stunden pro Woche Grundschüler in evangelischer Religion. Sie habe den Eindruck, "dass es in Familien oft niemanden zum Reden gibt". In kleinen Gruppen von acht bis zehn Schülerinnen und Schülern hätten die Kinder keine Scheu zu sprechen: "Grundschüler sind von ihrer Entwicklung her sehr offen und erzählen, was ihnen wichtig ist." Das kann die zunehmende Gebrechlichkeit der Großeltern ebenso sein wie der Wunsch nach einem Geschwisterkind.
Der Mut einer Schülerin hat die Religionslehrerin besonders beeindruckt. Das Kind erzählte, dass eine nahe Angehörige im Frauengefängnis Bühl, einer Außenstelle der Justizvollzugsanstalt Karlsruhe, einsitze. Die Klasse habe ohne Vorbehalte reagiert und allein die Bedürftigkeit der Mitschülerin gesehen, erinnert sich Mühlenberg-Knebel. "Die Schüler, die selbst noch kaum schreiben konnten, haben einen Brief geschrieben, um die inhaftierte Person aufzuheitern", berichtet sie: "Es war wichtig für das Kind, davon erzählen zu können und ernst genommen zu werden in der angespannten Situation."
Der Religionsunterricht sei zu einem Raum geworden, in dem Kinder wagten, eine sehr persönliche Angelegenheit anzusprechen. Um sich gut aufgehoben zu fühlen, sei die Achtung der Privatsphäre absolut notwendig. "Es muss klar sein, was mit dem passiert, was ich hier preisgebe", betont Obenauer. Gerade Jugendliche verspürten ein starkes Bedürfnis nach vertraulichem Umgang mit dem, was sie beschäftigt. Über Sexualität, Identitätskrisen, Suizid wolle aus Selbstschutz nicht jeder vor der ganzen Klasse sprechen. "Die Religionslehrer respektieren das", sagt Obenauer.
Er ist überzeugt, dass Religionsunterricht auch im Jahr 2024 noch zeitgemäß ist. Die Schüler lernten im Unterricht andere Religionen kennen und könnten sie besser einordnen. Dieses Wissen wiederum schütze sie gegen extremistische Positionen. Religionsunterricht sei zugleich der Ort, in dem es um die Grundfragen des Lebens geht: Wofür lebe ich? Wo komme ich her? Wo gehe ich hin? Was bin ich wert? Was ist mir wichtig? Hier könnten junge Menschen in ihrer Persönlichkeit wachsen und urteilsfähig werden. Das schaffe keine Künstliche Intelligenz. Der Lehrer erreiche die Schüler auf einer anderen Ebene als etwa im Matheunterricht, erklärt Obenauer: "Religionsunterricht bietet einen geschützten Raum, der hilft, sich auf das Leben mit allen seinen Facetten vorzubereiten."