Der Alltag hat die Menschen wieder – zumindest halbwegs. Denn an Wümme, Wörpe, Aller und Hunte ist das Wasser zurückgegangen. Die Flüsse waren über Weihnachten und Neujahr über die Ufer getreten und hatten für bis dato selten gesehene Überschwemmungen in Norddeutschland gesorgt. Auch im Landkreis Landkreis Mansfeld-Südharz bangten die Menschen um Deiche und Häuser; etwa im kleinen Ort Kelba. Inzwischen hat das Aufräumen begonnen. Das alles erlebten die Menschen im Ahrtal zweieinhalb Jahre zuvor, im Juni 2021. Die Auswirkungen sind bis heute sicht- und spürbar. Bei der Bewältigung dessen helfen die Kirchengemeinden vor Ort – vielleicht nicht immer sofort, sondern in unterschiedlichem Maße in der Zukunft.
Friedemann Bach ist einer der Kirchenmenschen, die bis heute mitten im Geschehen sind. Denn er ist Pfarrer der Evangelischen Kirchengemeinde Bad Neuenahr-Ahrweiler. Nach dem "Tsunami", der laut Bach im Frühsommer 2021 über den beschaulichen Ort hineingebrochen war, haben er und seine Kollegi:nnen versucht, auf unterschiedlichen Ebenen zu helfen.
Die Betroffenen hatten damals und heute noch viele Fragen und Sorgen. Katholische und evangelische Geistliche boten deshalb Gespräche an oder vermittelten Kontakte und sorgten für die Auszahlung von Geld an jene Menschen, die in wirtschaftliche Schieflage geraten waren. Die evangelischen Kirchengemeinden können bis heute durch viele Geldspenden Unterstützung leisten. Nicht zu vergessen die zahlreichen Gebete und die persönlichen Segenszusprüche.
Aufsuchende Arbeit
Nach der Flut versuchte Pfarrer Bach, Gemeindemitglieder in ihrer jeweils aktuellen Situation zu finden beziehungsweise aufzusuchen, um ihnen Hinweise auf Hilfsmöglichkeiten zu geben. Dies geschehe bis heute "teilweise sehr systematisch an Geburtstagen orientiert", sagt er. Darüber hinaus seien Kontakte via Telefon, e-Mail, Messenger und Social Media wichtig. Die "aufsuchende Arbeit" seitens der Kirchengemeinden und ihrer Mitarbeitenden sei sehr bedeutend, so Bachs Erfahrung, denn etwa zehn Prozent der Menschen im Ahrtal würden durch jedes Hilferaster fallen.
Angesichts der Umstände kommen Menschen wie der Ahrweiler Pfarrer selbst irgendwann an die eigenen Grenzen. Er macht keinen Hehl daraus, dass er die notwendige Systematik ab Sommer 2023 nicht mehr leisten konnte. Dies habe "nicht nur mit diversen zusätzlichen dienstlichen und anderen Anforderungen zu tun". Vielmehr sei es "auch eine Folge von Flutkontakten, die zu verkraften sind". Bach hat bis zu fünf bis sechs Gespräche täglich. Ein weiterer Punkt sei das fehlende Personal, auch bei den Ortsgemeinden.
Die Menschen seien "flutversehrt", sagt Bach. Es gebe ganz individuell ausgeprägte "bewusste oder unbewusste Auswirkungen" einer post-traumatischen Belastungsstörung (PTBS). Viele seien in psychotherapeutischer oder psychologischer Behandlung. Aber: "Dass man auf einen Seelsorger oder Notfallseelsorger zugeht, ist die Ausnahme." Die Menschen hätten unter anderem Verdrängungsstrategien entwickelt: "Man möchte am liebsten das Thema Flut außen vor haben." Wer die Auswirkungen der Ahrtal-Flut nicht erträgt, zieht oftmals weg.
"Rosenkränzchen" und neue Netzwerke
Doch es gibt auch Pflanzen, die wachsen. Bach nennt als Beispiel die katholische Rosenkranzkirche in Bad Neuenahr: Im Garten des derzeit unbewohnten Pfarrhauses hat die Gemeinde mithilfe der Malteser sogenannte "Rosenkränzchen" angelegt. Diese ein mal zwei Meter großen Parzellen werden von Menschen gepflegt und gehegt, die eine Gemeinschaft bilden, ins Gespräch kommen und sich gegenseitig helfen. Dies ist für Bach eines der Beispiele für den Aufbau neuer Netzwerke mit den Institutionen vor Ort, wie dem Mehrgenerationenhaus.
Soweit sind die Gemeinden in Norddeutschland noch nicht, doch die Mitarbeitenden stehen für Gespräche und Hilfe bereit – beispielsweise dann, wenn zum Frühjahr hin, die Gewässer noch einmal in die Keller schwappen. Dann könnte es geschehen, dass etwa die Kirchengemeinde im Bremer Ortsteil Borgfeld ihre Räume wieder zur Verfügung stellt, wie es bereits zum Jahreswechsel war.
Dass sich indes jemand bewusst an die Pastor:innen oder Gemeindevertreter:innen gewendet hat, ist bislang noch nicht vorgekommen. Nur auf "Geburtstagen oder über den Gartenzaun" werde darüber gesprochen, weiß Volkmar Kamp. Damit spricht der Pastor der evangelisch-lutherischen Kirchengemeinde Lilienthal seinen Amtsbrüdern und -schwestern der anderen Kirchengemeinden in den jeweiligen Hochwassergebieten in Bremen-Borgfeld und Verden aus dem Herzen.
Alltagsgespräche über Überschwemmungen
Gespräche über das Wasser in Kellern, Wohnzimmern und Küchen gehörten zum Alltag, sagt Kamp: "Diese Art der Seelsorge ist die beste. Einfach da sein und zuhören, das ist wichtig." Das müsse auch möglich sein, wenn er Menschen aus der Kirchengemeinde oder der Kommune beim Einkaufen treffe. Der Pfarrer ist überzeugt, dass es über kurz oder lang zu persönlichen Gesprächen kommen wird. Erste Telefonate "aus dem engeren Kreis" deuten darauf hin.
"Was ich jetzt spüre, ist eine große Dankbarkeit", sagt auch Tanja Kamp-Ehrhardt. Sie teilt sich mit ihrem Mann die Lilienthaler Pfarrstelle. Es gebe ein großes Bedürfnis zu sagen: "Wir haben es geschafft!" Zudem mische sich Dankbarkeit mit Hilfsbereitschaft – in der säkularen Welt, aber auch vor dem Hintergrund christlicher Motivation. Durch ein Treffen mit anderen Eltern aus der Messengergruppe ihrer Kinder weiß Kamp-Erhardt: "Die wollten reden". Hilfe für die Überschwemmungsopfer organisiert die Ortsgemeinde Lilienthal über ihre Freiwilligenagentur.
Soforthilfen haben zudem die niedersächsische Landesregierung und der Bremer Senat beschlossen. Doch im Gegensatz zum Ahrtal sind die Pastoren in Norddeutschland bislang noch nicht gefordert, wenn es darum geht, Menschen bei der Organisation von Hilfen unter die Arme zu greifen.
Auch die Verdener Domgemeinde hatte sich auf das Schlimmste vorbereitet, denn die Hochwassersituation sei "sehr besorgniserregend" gewesen, blickt Pastor Dieter Sogorski auf Weihnachten und den Jahreswechsel zurück. Davon machte sich unter anderem Bundeskanzler Olaf Scholz ein Bild. Zum Glück mussten die Bewohner des Verdener Fischerviertels, das direkt neben der Domgemeinde liegt, nicht evakuiert werden. Wäre dies nötig gewesen, hätte die Domgemeinde Räume zur Verfügung gestellt, so Sogorski.
Auch die Verdener:innen räumen inzwischen auf. Von "akuter seelischer Not" unter den Betroffenen habe er nichts gehört, freut sich der Aller-Pfarrer. Sollte es dennoch Gesprächsbedarf geben, stehen Sogorski und seine beiden Amtskolleg:innen Lüder Möhring sowie Bettina Kattwinkel-Hübler natürlich bereit – im Rahmen eines Spontanbesuchs oder an der Pfarrhaustür. "Ich rechne damit, dass ich angesprochen werde", sagt denn auch Sogorski, "meine Kolleg:innen würden das auch so sehen."