epd: Die ForuM-Studie spricht von Machtmissbrauch bei evangelischen Geistlichen, die zu Missbrauchstätern wurden. Warum gibt es keinen Unterschied, ob es sich beim Täter um einen geweihten Priester oder einen ordinierten lutherischen Pfarrer handelt?
Großbölting: Die Frage nach dem Warum ist immer schwierig. Zunächst ist die Beobachtung, wie parallel beide geistlichen Ämter als Risikofaktoren sind, für mich ein zentraler Befund. Bei allen Unterschieden scheinen mir die grundlegenden Mechanismen sehr ähnlich zu sein. Und das finde ich erstaunlich.
Seit der Aufdeckung des Missbrauchsskandals am Berliner Canisiuskolleg 2010 sprechen wir über spezifische Risikofaktoren in der katholischen Kirche für sexualisierte Gewalt: Zölibat, Klerikalismus, eine absolute Überhöhung des Priesters als heiliger Mann. Und ich bin davon überzeugt, dass das die besonderen Risikofaktoren im Katholischen sind. Und trotzdem ändern diese Besonderheiten nichts daran, dass wir auch auf der evangelischen Seite eine ebenso große und im Tatfall dann fatale Pastoralmacht haben. Der Geistliche - in der Regel ein Mann -, der zum Täter wird, tritt als religiöser Experte auf. Dieses Expertenwissen, man kann auch sagen, diese besondere Beziehung zum Transzendenten nutzt er für sich so aus, dass er die Gottesliebe der Gläubigen auf sich lenkt. Damit erwirbt er Macht, die er wiederum dafür einsetzt, um sexualisierte Gewalt zu verüben.
Welche Schlüsse ziehen Sie daraus?
Großbölting: Bei der Aufarbeitung und der Prävention muss man schon auf die jeweils spezifischen Risikofaktoren schauen. Im Protestantischen scheint die formale Weihe nicht der ausschlaggebende Punkt zu sein, sondern eher die Einbindung in die Institution und die besondere Herausgehobenheit des Pfarrers. Insbesondere Kinder und Jugendliche, die besonders fromm und gläubig sind, denen die Frage nach Gott besonders wichtig ist, sind auch besonders gefährdet. Auf sie hat der Missbrauchstäter Zugriff als religiöser Experte, durch seine besondere Gottesverbundenheit und mit seiner besonderen Stellung in der Kirche.
"Insbesondere Kinder und Jugendliche, die besonders fromm und gläubig sind, denen die Frage nach Gott besonders wichtig ist, sind auch besonders gefährdet"
Sind die verschiedenen Frömmigkeitsstile in der evangelischen Kirche ein Faktor für Missbrauch?
Großbölting: Nein. Sexualisierte Gewalt kommt in allen Gemeinden vor - sowohl in der liberalen Gemeinde der 60er, 70er, 80er Jahre wie auch in der eher traditionellen lutherischen Gemeinde der 50er und 60er Jahre, in den Freikirchen oder in den pietistischen Gemeinschaften. Sowohl in den traditionellen als auch in den liberalen Tatkontexten machen sich die Missbrauchstäter die jeweiligen Strukturen zunutze.
Bei der Vorstellung der ForuM-Studie haben Sie gesagt, für Sie seien die Ergebnisse eine Anfrage an den Protestantismus, der die individuelle Verantwortung der Gläubigen ins Zentrum gerückt hat.
Großbölting: Die Kirchen der Reformation entstehen aus dem Impuls, die Freiheit des Christenmenschen zu betonen und den oder die Einzelne aus der Hierarchie der Kirche und aus den besonderen Gehorsamsstrukturen der alten Kirche zu befreien. Das wäre auch ein "Rezept" gegen Machtmissbrauch in pastoralen Zusammenhängen, damit der Geistliche sich durch seine Stellung nicht überhöhen kann und nicht diese Abhängigkeiten schafft.
Das scheint in der protestantischen Kirche aber ebenso wenig zu greifen wie die weitgehende Gleichstellung von Frauen und Männern in der Kirche. Auch im Protestantischen ist es so, dass zu einem sehr hohen Prozentsatz Männer als Missbrauchstäter in Erscheinung treten, seien es Geistliche oder andere Mitarbeiter. Der Kulturwandel in der Gleichstellung von Frauen und Männern schlägt somit nicht wirklich durch. Und daraus ergeben sich Anfragen an die Kirche insgesamt oder auch an die Landeskirchen, denen sie sich meines Erachtens stellen müssen.
Bislang, so mein Eindruck, wird viel über Schutzkonzepte gesprochen, ohne dabei die spezifische Konstellation von Macht in den Blick zu nehmen. Die Schutzkonzepte sind so allgemein, dass sie auch in jedem Großunternehmen oder an der Universität greifen könnten. Das Spezifische im Kirchenkontext aber scheint mir zu sein, dass dieses ungleiche Machtverhältnis im Kern durch ein besonderes Sprechen über Gott und durch eine besondere Organisierung des Lebens in dieser Glaubensgemeinschaft entstehen. Den religiösen Kern dieser Machtimbalance muss man treffen, um Prävention zu betreiben.
Verhindert die Idee des Familiären, wie sie in der Studie als spezifisch evangelisch beschrieben wird, dass man überhaupt über Macht spricht?
Großbölting: Ja, man spricht nicht oder wenigstens zu wenig über Macht, Machtstrukturen und eventuell auch Machtmissbrauch. Es gibt eine Machtvergessenheit. Das vorherrschende Ideal der Geschwisterlichkeit, der Partizipation, der Demokratie verhindert, dass es klare Strukturen gibt, sowohl für die Aufarbeitung als auch für den Umgang mit Betroffenen, die versuchen, ihre Erfahrungen zu berichten. Auch wenn die Synodalstrukturen wie auch die Partizipationsmöglichkeiten natürlich eine große Chance des Protestantismus sind, dürfen sich diese nicht mit dem Fehlen von Verantwortlichkeiten und fachlicher Kontrolle verbinden.
"Man spricht nicht oder wenigstens zu wenig über Macht, Machtstrukturen und eventuell auch Machtmissbrauch. Es gibt eine Machtvergessenheit"
In Ihren Fallstudien zeigt sich, dass es durchaus schon ein Wissen im Tatumfeld gab. Warum wurde Missbrauch dennoch nicht verhindert?
Großbölting: Es gab in vielen Fällen ein bewusst implizites Wissen in den Gemeinden. In der Alltagssituation ist das leicht zu erklären. Implizites Wissen bedeutet, dass Menschen in der Regel zwar ahnen, was passiert, dass sie Gerüchte hören, aber ihnen diese Uneindeutigkeit den Mut nimmt, ihre Beobachtungen öffentlich zu machen. Das Weggucken wird befördert durch den Wunsch, die Geschwisterlichkeit in der Glaubensgemeinschaft nicht zu stören.
Was man auch am Umgang mit den Betroffenen spüren kann. Auf der einen Seite gab es Betroffene, die die Sprache der Kirche sprechen und die auch den Anspruch auf Vergebung, der oftmals mitschwang, dann bedienen wollten. Letztlich ging es in vielen Gemeinden darum, dass die Gemeinschaft wiederhergestellt wird, auf die man so angewiesen ist. Auf der anderen Seite gab es Betroffene, die diesen Weg nicht mitgehen und die das ihnen widerfahrene Unrecht nicht mit Vergebung beenden wollten. Diese wurden dann aus der Gemeinschaft ausgegrenzt. Diese fehlende Konfliktkultur leistet dem Verüben von Missbrauchstaten und auch ihrer späteren Aufarbeitung Vorschub.
Was ist Ihr Eindruck, wie die Kirchenbasis heute mit Missbrauch umgeht?
Großbölting: Nach meiner Beobachtung gibt es in der evangelischen Kirche jenseits der etablierten Strukturen, also dem Beteiligungsforum, den Landeskirchenämtern, dem Rat der EKD, wenig Auseinandersetzung. In der katholischen Kirche in Deutschland gibt es Laien-Bewegungen wie "Wir sind Kirche", "Maria 2.0", die katholische Jugend und das Zentralkomitee der Katholiken. Ich will nicht sagen, dass es in der katholischen Kirche eine große Oppositionsbewegung gibt, das wäre übertrieben. Aber Gruppen und Verbände üben durchaus Druck aus, dass etwas passiert und benennen sehr klar die Bremser von Reformen.
Glauben Sie, dass Reformgegner in der katholischen Kirche nun auf die Protestanten zeigen und sagen können, Reformen für mehr Macht- und Gewaltenteilung brächten nichts?
Großbölting: Ich kann mir vorstellen, dass es solche Argumentationen gibt. Ich halte sie für grundfalsch. Es geht immer um pastorale Macht von Geistlichen gegenüber den Gläubigen. Keine der beiden großen Konfessionskirchen kann mit dem Finger auf die jeweils andere zeigen und sagen: "Ich muss mich nicht ändern, weil es beim anderen ja auch passiert." Angemessener wäre es meines Erachtens, dass sich die Verantwortlichen im Katholischen ebenso wie im Protestantischen gemeinsam dafür schämen, was in ihren jeweiligen Institutionen passiert ist. Wenn sie miteinander konkurrieren wollen, dann positiv in der Frage, wie das Ziel der Christusnachfolge wohl am besten zu erreichen wäre.