Es ist kalt und sternenklar. Wir laufen im Dunkeln. Ich höre den Schnee fallen, es sind mehr kleine, klirrende Kristalle als Flocken. Wir sind allein auf den Straßen, Gott, der Hund und ich. An den Gehwegen liegen die abgeschmückten Tannen, der Hund markiert die Schönsten (also alle). Ich kann nicht anders, als sie mir vorzustellen, wie sie vor wenigen Wochen in hellem Lichterglanz in den Wohnzimmern standen. Das eine oder andere Herz, alt oder jung, hatte sich ein Jahr lang darauf gefreut. Auf diesen Baum, auf diesen Moment. Hat Schokokringel mit rotem Nähgarn versehen und über die Zweige gestreift. An manchem Baum brannten echte Kerzen, und es duftete nach dem Weihnachten von Früher.
Aber jetzt ist das Fest längst weggeräumt, die Bäume werden nicht mehr gebraucht, man ärgert sich über die Nadeln, die bis April in den Ecken auftauchen, weil der Staubsauger sie nicht erwischt hat. Da ist dieser Spannungsbogen zwischen Dezember und April, zwischen Weihnachten und Ostern – zwischen Gott und den Menschen: Vergesst es nicht so schnell. Der Retter ist gekommen. Und wir vergessen es schnell.
Die Straßen sind glatt, alles ist rutschig. Der Hund läuft schnurstracks – auf seinen vier Pfoten hat er den sichereren Stand. Ich trage meine Wanderschuhe, auch wenn das Schnüren extra Zeit braucht. Ich möchte mich nicht auf das Eis packen, im Dunkeln, in der Kälte. Die Kinder warten auf das Abendessen. Ich habe auch Hunger.
Mirjam Zücker, 1980 geboren, hat Skandinavistik studiert, eine Zeitschrift gegründet, ein paar gemäßigte Jahre in Berlin verbracht und lebt inzwischen mit Familie und Hund im sandigen Havelland. Sie schreibt vor allem für Kinder, ab und an auch für Erwachsene. Geboren wurde sie in Mecklenburg und ihr Herz schlägt ungebrochen für den Norden.
Wir kommen an einem Haus vorbei, dort herrscht Aufregung. Was ist los? Auf der Treppe zum Eingang diskutieren Leute, ein junger Mann redet auf einen alten Mann ein, gibt Anweisungen, sehr konkret, am Rande der Geduld. Wie der Alte die Beine bewegen, welchen Fuß er wohin genau setzen soll. Der Alte steckt fest, weiß nicht vor und nicht zurück. Verzweiflung, Knoten im Kopf; ich kann es sehen, selbst hier im Dunkeln. Würde ist ein flüchtiges Ding.
Ich möchte behaupten, das Wort Würde wird der Bedeutung auch nicht im Ansatz gerecht. Und dann ist es ja noch nicht einmal ein "eigenes" Wort. Als Verb, im Konjunktiv, kann ich ausdrücken, was ich alles machen würde - ohne das etwas davon wirklich passiert.
Würde? Ich beantrage ein neues Wort!
Ich beantrage ein neues Wort! Wo kann ich den Antrag bitteschön einreichen?
Hinter der erleuchteten Haustür steht die zugehörige alte Frau, mehr kann sie auch nicht beitragen. Ein paar Stufen aus Stein werden allein vom Lauf der Zeit zu einer kaum überwindbaren Hürde. Wie sich das reimt.
Wir sind längst weiter geschlittert, der Hund und ich. Und Gott ist dort und gleichzeitig neben mir und schwer greifbar. Wie sehr schmerzt es, dem zuzusehen? Seine so weich und schön und makellos geborenen Menschen blühen kurz auf, wenn überhaupt – um dann krumm zu werden und zu verfallen. Äußerlich! Hoffentlich nur äußerlich.
Ich liebe den Bibelvers in 2. Korinther 4,16: "Darum werden wir nicht müde; sondern, ob unser äußerlicher Mensch verdirbt, so wird doch der innerliche von Tag zu Tag erneuert." Schade, dass Gott es nicht irgendwie so eingerichtet hat, dass wir im Alter auch wieder körperlich klein werden. Getragen werden können. Ich gebe es zu: ein seltsamer Gedanke. Aber er entspricht möglicherweise der Sehnsucht, die die Alten alle in sich tragen: Zurück in Mutters Arme, auf Vaters Schultern.
Am anderen Morgen teilen wir uns die gefrorenen Pfützen, der Hund und ich. Ich zertrete so gern das dunkel schimmernde Eis, er beißt sich Schollen heraus und spielt damit. Ein neuer, heller Tag. Wem begegnen wir?
Nach einem bestimmten Hund halte ich schon länger Ausschau; Lotte, wo bist du? Eine große und ängstliche Hündin aus dem Tierschutz, ihr Besitzer staunte darüber, dass sie sich von meinem Hund beschnuppern ließ. Wir tauschten die typischen Sätze aus, unsere Wege trennten sich; nach ein paar Minuten kamen die beiden zurück. Der Herr sah nicht gut aus, er ließ sich auf die Bank der Bushaltestelle fallen, mir wurde mulmig. Im Notfälle erkennen bin ich ungeübt.
Doch keinen Plan
Er fragte mich, ob er mit meinem Handy seine Frau anrufen könnte. Ich war erleichtert: Es gab einen Plan. Die Hunde wunderten sich und mussten stillhalten. Ich wählte die Nummer wieder und wieder, besetzt. "Dann telefoniert sie mit der Tochter, das kann eine Stunde dauern", sagte er. Es gab doch keinen Plan. Ich hatte noch nie einen Krankenwagen gerufen, jetzt rauschte mir das Blut in den Ohren. Vielleicht war der gute Mann auch einfach nur etwas angetrunken? Egal – für Stoßgebete fehlten mir die Worte, ich war froh, dass ich 112 und nicht 110 gewählt habe (auch die Polizei musste ich noch nie rufen). Eine Reihe Fragen wurden gestellt, ich dachte: Wie unwichtig! Kommt schnell. Ich hatte Angst. Um einen Fremden mit einem schönen Hund. Der Mann schien zu verschwinden, ich hangelte mich mit ihm durch ein Gespräch, endlich kam der Rettungswagen. Die Sanitäter, viel zu tiefenentspannt, wenn sie jetzt noch nach der Versichertenkarte fragten, würde mein Geduldsfaden reißen.
Aber da war ja noch Lotte. Die konnte im Krankenwagen nicht mitfahren. Der Mann nannte mir seine Adresse und vertraute mir sein Tier an – was blieb ihm übrig. Es ging ihm wirklich schlecht. Die Straße, in der er wohnte, war nicht weit weg. Das würde ein Leichtes, dachte ich. Der Hund dachte: Ach so, jetzt geht der Spaß endlich los und jagte die Hundedame. (Hat manchmal nur eins im Sinn, der Rüpel.) Bevor ich beide Hunde an kurzen Leinen hatte, war Lotte aus ihrem Halsband geschlüpft und trabte davon. Ach soo!, dachte mein Hund, wir spielen auf Zeit und wollte im Galopp hinterher.
Der Hund und ich, wir rannten der Ausreißerin nach. Ich hoffte, dass sie den Weg nach Hause nahm und nicht das Weite suchte. Und dass Gott sich verlautbaren konnte, auch bei Hunden.
"Hilflos werden wir alle unglaublich schnell"
Tatsächlich steuerte die Hündin ein Haus an und lief weiter, als sie bemerkte, dass sie meinen Rüpel nicht abgehängt hatte. Ich öffnete das Gartentor, leinte meinen Hund an den Zaun und rief sie. Ein Glück, Lotte kam.
Vorbei war es noch nicht. Ich musste die Frau heraus klingeln und erschrecken. Sie wunderte sich, das wir sie nicht erreicht hatten, denn telefoniert hatte sie nicht. Ein Rätsel, das offen blieb. Am nächsten Tag rief sie mich an, ich wollte wissen, wie es ausgegangen war. Einige Stunden Not-OP hatte es gebraucht. Über diesen Berg war ihr Mann gekommen.
Ich weiß nicht, was gewesen wäre, wenn wir da nicht in der Nähe gelaufen wären. Oder warum ich nicht auf die Idee kam, meine Schwester, die in der Nähe wohnt, mit ihrem Auto herbei zu telefonieren. Manchmal haben wir nicht alle sieben Sinne beisammen. Hilflos werden wir alle unglaublich schnell. Und um die Würde eines Menschen zu schützen – braucht es immer den Anderen, ein Gegenüber. Und manchmal einen Hund obendrauf. Eigentlich könnte ich nachsehen gehen, ich weiß ja, wo Lotte wohnt.