Raus an die frische Luft, unter den freien, weiten Himmel - so weit wie es in meiner kleinen, zugebauten Stadt eben geht. Seit anderthalb Jahren gehört diese Fellnase, ein Golden Tolling Retriever aus dem Spreewald, zu unserer Familie. Es stimmt: das letzte Kind hat Fell.
Unseres haben wir Rasmus genannt. Er ist eigensinnig, herzensgut und voller Energie. So war ich inzwischen sehr viel zu Fuß unterwegs. Noch längere Wege als damals, mit dem Kinderwagen, denn dieser Hund fährt nicht gern Auto, ihm wird bei der kleinsten Fahrt schlecht. Mal eben in den Kofferraum springen, zum nächsten Wald oder Feld zu düsen, ist mit ihm nicht drin. Anfangs konnte ich ihn noch auf Händen hineintragen in unseren Bulli - jetzt ist er ausgewachsen und zu schwer für mich. Aber er braucht Bewegung, also drehen wir lange Runden, der Hund und ich, wenn die Kinder in der Schule sind. Und ich habe plötzlich sehr viel Zeit, mit Gott zu reden - der Hund nämlich ist schweigsam, der Hund will "Straßenzeitung" lesen - Spuren und Gerüche, alle für mich unsichtbar. Aber er vertraut seiner weichen, nassen Nase und läuft ihr nach. Jede Hausecke, jeder Baum, jeder Laubsack erzählt ihm etwas.
Mirjam Zücker, 1980 geboren, hat Skandinavistik studiert, eine Zeitschrift gegründet, ein paar gemäßigte Jahre in Berlin verbracht und lebt inzwischen mit Familie und Hund im sandigen Havelland. Sie schreibt vor allem für Kinder, ab und an auch für Erwachsene. Geboren wurde sie in Mecklenburg und ihr Herz schlägt ungebrochen für den Norden.
So drehen wir die erste Runde des Tages, hell ist es längst geworden, der Hund hat gefrühstückt, ich habe meinen zweiten Kaffee getrunken. Die unverbrauchte, klare Luft pustet mir den Kopf frei, ich bin wach. Der Hund erhofft sich von diesem Tag alles: freundliche andere Hunde treffen, zusammen spielen, Belohnungen bekommen, gekrault werden, frisches Futter, vielleicht sogar mit einem Spiegelei obendrauf, im Kreis der Familie einen Platz abbekommen, in Frieden schlafen. Hunde und Menschen sind sich in ihren Hoffnungen ja so ähnlich.
Und hier draußen haben die Menschen mit Hund auch (mindestens) eine Gemeinsamkeit: Sie sehen ihren Hund. Unterwegs lassen sie ihn nicht aus den Augen.
Gesehen werden - das ist eine uns allzu bekannte Sehnsucht. Und ich, was sehe ich, jetzt und hier, unter diesem Stück Himmel? Was bleibt mir verborgen? Wo legt Gott seine Spuren für mich aus, an diesem Tag. Was sollte ich wirklich nicht verpassen, was kann ich auch morgen, übermorgen noch entdecken?
"Gesehen werden - das ist eine uns allzu bekannte Sehnsucht"
Auch ich träume schon länger vom großen Ausbruch aus dem Alltagstrott - mit Rucksack, Wanderschuhen und Blasenpflastern, auf die Pilgerwege nach Santiago de Compostela oder auf den St. Olavsweg von Schweden nach Trondheim. Aber vielleicht muss ich gar nicht so weit weg laufen, vielleicht bin ich längst eine Pilgerin in ebendiesem Alltag. Und manchmal sollte ich auf den Boden schauen, was mir da vor die Füße fällt, manchmal nach oben, in den Himmel - und immer wieder den Leuten, denen ich begegne, in die Augen und nicht an ihnen vorbei.
"El Roi - du bist ein Gott, der mich sieht." (1. Mose 16,13) Die Jahreslosung des gerade verabschiedeten Jahres 2023 war anders, tiefer, persönlicher als die Losungen zuvor.
Gott sieht mich - dich auch - die ganze Zeit. Wie auch immer er das macht.
Wie weit reicht das hinein in meinen Alltag? In die ganz banalen, unscheinbaren Momente. In die flüchtigen, scheinbar zufälligen Begegnungen. Und habe ich da nicht eine Aufgabe?
In den letzten anderthalb Jahren habe ich längst nicht alle Hunde (und deren Menschen) meiner umliegenden Nachbarschaft kennengelernt - aber ziemlich viele. Ich habe sie nicht gezählt, 50 sind es mindestens. Hunde aller Art: schön, alt, riesig, kleiner als junge Katzen, neugierig, verspielt, wütend, bunt angezogen, giftig, ängstlich, krank, traurig, einsam, wild, verrückt, mit sehr treuen Augen, abenteuerlustig, zutraulich, … die Liste ist lang.
Ich bin keine Meisterin des Smalltalks, aber die Hunde der anderen Leute bringen mich zum Reden. Gesprächsstoff liegt ja schon auf der Hand - und es ist ein schönes Thema. Aber da ist auch eine Neugier in mir auf die unterschiedlichen Gegenüber, die mir da über den Weg laufen. Wie verschieden wir doch sind! Darüber kann ich lange staunen. Und alle kommen wir aus derselben Schöpferhand. Das fasziniert mich. So wie man bei Geschwistern gern nach Ähnlichkeiten sucht, bin ich am fragen: Was haben wir gemeinsam? Die quirlige, ältere Dame - die mit ihren beiden kleinen Kläffern und im Bademantel ihres Weges geht, jeden kennt und anspricht, die auch mich mit wenigen Worten und Blicken durchschaut - sie also und ich? Oder der kleine, gebeugte Herr - der sich am Rollator hält, so junge Augen hat und zwei Hunde, aber er kann jeweils nur einen zum Spazieren ausführen, hat immer ein nettes Wort übrig - er also und ich? Wir sind Menschengeschwister. Wo gleichen wir uns, wo brauchen wir uns? Ich mag das Lächeln dieser Fremden. Es ist so ehrlich.
Manche von ihnen treffe ich jeden Tag, von einigen kenne ich inzwischen das halbe Leben. Mein Hund ist vernarrt in jeden anderen Hund, in die wohlriechenden Hundedamen natürlich ganz besonders - aber auch sonst: Hund ist Hund und das bedeutet: spielen. Was an der Leine nur bedingt geht - aber sich beschnuppern, begrüßen, ganz kurz das Leben gemeinsam genießen. Und wenn die Menschen sich länger unterhalten, dann ist das Vergnügen umso länger.
Manchmal wird man sogar kurz in den Garten zum Spielen oder auf einen Kaffee eingeladen. Manchmal fällt man dabei in den Pool. Irgendetwas erleben wir immer.
Ich möchte noch bewusster in diese Begegnungen gehen, mit offenen Augen durch meine Welt laufen. Ich möchte Gott ziemlich oft treffen. Gerade in diesen meinen Nächsten. Und ja - ich sehe etwas von Seiner Treue in den Augen der Hunde.