Kann Pilgern ein Beruf sein? Felice Meer lacht, und ihre Augen blitzen. "Für mich ist es zumindest mehr als ein Hobby", sagt die 57-Jährige in ihrem Atelier im kleinen Dorf Weste bei Uelzen. Passend zum leuchtend roten Haar hat sie orangefarbene Trailrunning-Schuhe angezogen. "Fürs Image", bemerkt sie verschmitzt. Und tatsächlich stehen die Schuhe sinnbildlich dafür, wie sich das Leben der Grafikerin verändert hat, seit sie sich im Juni 2020 erstmals auf den Weg machte und 3.200 Kilometer weit den Jakobsweg pilgerte.
Meer sitzt am Zeichentisch im hellen Dachgeschoss-Atelier in dem kleinen Heidedorf in Niedersachsen. Vor ihr liegt ein erstes Exemplar ihrer Graphic Novel "Pilgern in Bildern - Eine Comiczeichnerin auf Abwegen", das sie demnächst auf der Leipziger Buchmesse und bei Lesungen vorstellen will. Entstanden sind die Zeichnungen bei gleich drei Pilgerwegen mit insgesamt mehr als 7.000 Kilometern.
Es war im März 2020 als die Corona-Pandemie auch für Felice Meer das Berufsleben fast zum Erliegen brachte. Die Grafikerin, die vor allem Chöre unter ihren Kunden hat, stand ohne Aufträge da. Wie einschneidend es werden würde, als sie sich dann entschloss, zu Fuß bis ins spanische Santiago de Compostela zu gehen, ahnte sie da selbst noch nicht. "Durch das Loslaufen hat sich mein Leben verändert", weiß sie heute.
Zweimal war sie seitdem wieder auf Pilgerschaft, bis ins norwegische Trondheim und nach Rom. Mit Aquarellkasten und Stiften hat sie von unterwegs berichtet - per Comic. Jeweils Packen von Zeichnungen schickte sie regelmäßig an ihre Frau nach Hause. Zwar war ihr einziger Begleiter - "Menno", der kleine Drache - nur eine Fantasiefigur, die neben ihr in den Comics eine Hauptrolle spielt. Doch allein habe sie sich nie gefühlt, sagt die Pilgerin.
Das Gefühl auch für andere Menschen zu laufen
Auf Instagram, wo sie von unterwegs ihre Zeichnungen veröffentlicht hat, folgen ihr rund 1.000 Menschen. Bis zu 60 haben sie zeitweise über die Kreativen-Plattform "steady" auch finanziell unterstützt. "Das sind keine Massen, aber viele Rückmeldungen waren sehr intensiv", blickt Meer zurück. Oft habe sie das Gefühl gehabt, auch stellvertretend für andere zu pilgern, die sich den Traum vom Unterwegssein selbst nicht erfüllen können.
Sie berichtet von der Begegnung mit einem Pater in einer kleinen Kapelle im Kloster San Pietro im italienischen Vigneto. "Gott hat Deine Füße auserwählt, für andere zu laufen", habe er ihr gesagt und anschließend ihre Füße gewaschen. Während sie davon erzählt, spielt sie auf ihrem Computer die Zeichnungen ab, in denen sie das Erlebte von unterwegs aus festgehalten hat. Zu erzählen hat sie viel: von tückischen Insekten oder wunderbar geschützten Schlafplätzen unter freiem Himmel - etwa auf italienischen Friedhöfen.
Leben kann Meer von den Zeichnungen noch nicht, den Unterhalt bestreitet sie weiter als Grafikerin. Doch mit dem ersten Buch, das Anfang Mai im Verlag Monika Fuchs erscheint, sei ein Traum in Erfüllung gegangen, sagt sie. Und auch das hat sich geändert: Neben dem Häuschen mit ihrer Frau in der Lüneburger Heide hat Felice Meer jetzt auch ein Zimmer in Berlin.
"Nur noch auf dem Land ging nicht mehr", sagt sie mit einem Blick aus dem großen Atelierfenster in ihren Garten. In der Hauptstadt hat die Comic-Pilgerin inzwischen allerlei Kontakte in die Szene geknüpft, etwa zum Netzwerk "ComicInvasion". Nach der Rückkehr vom ersten Pilgerweg nach Santiago de Compostela hatte sie sich geschworen: Das war's! "Doch das hielt nur ein paar Wochen an", fügt sie hinzu.
Schon für den 31. Mai hat sie eine Bahnfahrt nach Liverpool gebucht. Dann will sie wieder losgehen, etwa 2.000 Kilometer entlang der englischen Küste - mit einem kleinen Zelt, dem Zeichenpapier für Comics und dem Drachen Menno - aber ansonsten mit möglichst leichtem Gepäck. Auch das ist etwas, das sie mit in ihren Alltag genommen hat: "Ich habe nur noch zwei Hosen, gute Hosen, aber mehr brauche ich nicht."