Der Titel dieses "Tatorts" aus München, "Das Wunderkind", ist etwas irreführend, selbst wenn der zehnjährige Ferdinand eine entscheidende Rolle spielt: Abgesehen vom Prolog, in dem der hochbegabte junge Pianist einen Förderwettbewerb gewinnt, ist er zunächst nur eine Nebenfigur. Im Mittelpunkt steht sein Vater: Dieter Scholz (Carlo Ljubek) hat seine Haftstrafe so gut wie abgebüßt. Der Kfz-Mechaniker ist ebenfalls ein Künstler, sein Metier allerdings ein völlig anderes: Er verleiht gestohlenen Autos eine neue Identität.
Nach fünf Jahren in der JVA gibt er sich geläutert. Er freut sich auf die Rückkehr ins Leben und zu seinem Sohn, der diese Zeit bei Pflegeeltern (Sarah Bauerett, Lasse Myhr) verbracht hat. Das Paar würde den Jungen gern bei sich behalten, aber Scholz hat Arbeit und Wohnung. Es gibt also keinen offenkundigen Grund, ihm das Sorgerecht vorzuenthalten, selbst wenn Ferdinands drogenabhängige Mutter Scholz einst der Kindesmisshandlung bezichtigt hat. Aus diesem Handlungshintergrund hätte sich auch ein Mittwochsdrama entwickeln können, zumal der Vater den Pflegeeltern nach seiner Freilassung eröffnet, dass sie vorerst keinen Kontakt mehr zu dem von ihnen mit viel Hingabe geförderten Kind haben dürfen; der Sohn soll sich wieder an ihn gewöhnen. Der Junge ist allerdings kreuzunglücklich; Platz für ein Klavier ist in der kleinen Mietwohnung ohnehin nicht.
Zum Krimi wird "Das Wunderkind", Fall Nummer 95 für Batic und Leitmayr (Miroslav Nemec, Udo Wachtveitl), als kurz vor Scholz’ Entlassung ein Häftling beim Duschen ermordet wird. Zwar weint dem zu einer gewissen Niedertracht neigenden Typen niemand eine Träne nach, schon gar nicht die Anstaltsleitung oder das Aufsichtspersonal, aber Mord ist Mord, und deshalb schlagen die Kommissare ihr Hauptquartier in der Gefängnisbibliothek auf, wo sie alle Männer befragen, die sich zur Tatzeit in der Nähe des Tatorts aufgehalten haben. Große Hoffnungen macht der Direktor (Thomas Huber) den Ermittlern nicht: Die Insassen hätten nichts zu gewinnen, wenn sie mit der Polizei kooperierten; tatsächlich schweigen die meisten. Als einer in den Verdacht gerät, doch geplaudert zu haben, muss er das prompt bitter bereuen.
Tilmann P. Gangloff, Diplom-Journalist und regelmäßiges Mitglied der Jury für den Grimme-Preis, schreibt freiberuflich unter anderem für das Portal evangelisch.de täglich TV-Tipps und setzt sich auch für "epd medien" mit dem Fernsehen auseinander. Auszeichnung: 2023 Bert-Donnepp-Preis - Deutscher Preis für Medienpublizistik (des Vereins der Freunde des Adolf-Grimme-Preises).
Die Geschichte ist durchaus interessant, aber "Das Wunderkind" macht schlicht keinen Spaß. Das soll der Film natürlich auch nicht, doch die bedrückende Atmosphäre schlägt regelrecht aufs Gemüt. Aus Sicht der Verantwortlichen ist das selbstredend ein Qualitätsmerkmal, denn genau diese Wirkung wollte Thomas Stiller (Buch und Regie) vermutlich erreichen. Seine letzte Arbeit war allerdings wesentlich spannender. Ein direkter Vergleich drängt sich geradezu auf, denn "Angst in meinem Kopf" (2018, ARD) mit Claudia Michelsen als traumatisierte JVA-Angestellte spielte ebenfalls im Gefängnis.
Der Film war eine reizvolle Mischung aus Drama und Thriller; Ralph Herforth, diesmal das Opfer, wirkte damals als Täter mit. Selbst der Dialogsatz "leben und leben lassen" als Devise des Personals fällt in beiden Fällen. Hier sagt ihn eine JVA-Beamtin, die mehr als bloß ein Auge zudrückt, wenn die Insassen ihre kleinen Geschäfte aushandeln. Jule Ronstedt ist in dieser "ausgestopften" und bewusst verunstalteten Rolle kaum zu erkennen. Batic bekommt äußerst schmerzhaft zu spüren, wie großzügig die Haltung der Frau ist; "Leben und sterben lassen" würde angesichts des Mordes ohnehin besser passen.
Wie einst in dem Knastklassiker schlechthin, "Der Gefangene von Alcatraz" (1992) mit Burt Lancaster, gibt es auch in diesem Film gelegentliche Momente der Rührung: Batic hat einige Begegnungen mit einem Häftling, der sich einen Kleintierzoo angelegt hat. Der traute Schein trügt jedoch: Der Mann hat einst seine Frau und deren "Kuckuckskind" ermordet. Der Film ist in der JVA Landshut während des laufenden Betriebs gedreht worden und wirkt entsprechend authentisch, viele Szenen sind eher grauweiß als bunt. Die hoffnungslose Geschichte gipfelt in einen grimmig-grausamen Epilog.