Bei einer Pressekonferenz in der Bundeszentrale des Verbandes in Kassel haben sich Journalist:innen aus ganz Deutschland zusammengefunden. Augen, Kameras und Mikrophone sind auf die sechs Gäste gerichtet. Darunter Vertreter:innen des Verbandes Christlicher Pfadfinder:innen sowie Peter Caspari vom Institut für Praxisforschung und Projektberatung (IPP) und dem Betroffenen Harald Wiester. Er hat ab dem Alter von 14 Jahren sexualisierte Gewalt bei den Pfadfindern erfahren - der mutmaßliche Täter war die Landesleitung des Verbandes.
Wiester ist kein Einzelfall. Bislang haben sich 64 Menschen bei der Betroffenenvertretung des VCP gemeldet, die von sexualisierter Gewalt berichten. Der Zeitraum der Taten spannt sich über Jahrzehnte - die ältesten gehen auf das Jahr 1977 zurück, die jüngsten passierten 2020. "Es ist damit zu rechnen, dass wir von vielen noch nicht wissen", sagt Louisa Kreuzheck, Präventionsbeauftragte und zuständig für Aufarbeitung im VCP.
Elf Taten seien strafrechtlich verfolgt worden, der Ausgang der Verfahren sei nicht immer bekannt. Zum Teil habe es Schuldsprüche gegeben, zum Teil seien die Verfahren ohne Urteil geblieben.
Hierarchische Strukturen als Risiko
Die Beschuldigungen reichen nach Kreuzhecks Angaben von Grenzverletzungen wie einmaligen oder gelegentlichen Berührungen über verbale Gewalt bis hin zur Vergewaltigung. Die meisten der dokumentierten Fälle hätten sich bei Pfadfinderlagern, Schulungen und privaten Treffen ereignet, erklärte Peter Keil, Mitglied im VCP-Bundesvorstand. Er bezeichnete "hierarchische wie auch freundschaftliche Strukturen" als Risiko.
Um herauszufinden, wie groß das Ausmaß der Übergriffe tatsächlich ist, und entsprechende Konsequenzen aus den Ergebnissen zu ziehen, hat der Verband eine unabhängige Studie in Auftrag gegeben. Das Forscherteam des IPP und des Instituts für Bildung und Forschung "Dissens" nimmt heute seine Arbeit auf. In den nächsten zweieinhalb Jahren wird es Daten und Informationen zu möglichen Vergehen innerhalb des Pfadfindervereins sammeln.
Peter Caspari vom IPP hat bereits Erfahrungen in der Recherche von sexualisierter Gewalt in großen Organisationen gesammelt. Er war sowohl an der Studie zur Aufklärung von Missbrauch in der Diakonie als auch im Bund Deutscher Pfadfinder (BdP) beteiligt.
"Wir wollen weg von Vermutungen und ehrlich dahin schauen, wo es wehtut", sagt Peter Keil vom VCP-Bundesvorstand und betont, dass der Verband so eine Kultur des Schweigens brechen wolle.
Bei der Pressekonferenz in Kassel fordert Caspari Betroffene und Zeitzeug:innen auf, sich bei den Instituten zu melden. "Jedes Interview ist wertvoll", sagt der Wissenschaftler. Mitarbeitende stünden bis zum 29. Februar für telefonische Gespräche bereit. Kontakt könne aber auch per Mail aufgenommen werden, sagt er (Kontakt zum IPP per Mail an aufruf-vcp@ipp-muenchen.de oder telefonisch unter der Nummer 089/543 59770 - dienstags 10–13 Uhr, donnerstags 12–15 Uhr).
Neben der Quantität der Fälle wollen die Forscher:innen in den nächsten zweieinhalb Jahren auch untersuchen, wie sich religiöse oder kulturelle Grundlagen auf die Fälle ausgewirkt haben, erläutert Caspari.
Diese Studie lässt sich der VCP zirka 300.000 Euro kosten, die aus Rücklagen des Verbandes stammen. Etwa weitere 200.000 Euro stellt der Verein als ergänzendes Hilfesystem für Betroffene zu Verfügung. Anerkennungsleistungen könne der VCP allein jedoch nicht bezahlen. "Das liegt am Budget", sagt Keil. "Wir hoffen auf eine Kooperation mit den Landeskirchen und der EKD."
Im Verband Christlicher Pfadfinderinnen und Pfadfinder (VCP) sind bundesweit rund 20.000 junge Menschen in 650 Stämmen (Ortsgruppen) aktiv, rund 5.000 engagieren sich als ehrenamtliche Mitarbeiter:innen. Rund die Hälfte der Mitglieder ist jünger als 21 Jahre. Der VCP ist außerdem in der Arbeitsgemeinschaft der Evangelischen Jugend (aej) vertreten und aktiver Teil der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD).