Die längst erwachsenen Kinder des vermögenden Unternehmers Richard Schwarz und seiner Frau Barbara (Götz Schubert, Juliane Köhler) leiden noch heute unter den Folgen eines rund zwanzig Jahre zurückliegenden Verbrechens. Damals ist die fünfjährige Tochter entführt worden. Das Kidnapping ging glimpflich aus, Emily ist nach der Zahlung eines Lösegelds zumindest physisch unversehrt in den Schoß der Familie zurückgekehrt, aber weil sie in einer Kiste eingesperrt war, ist sie bis heute psychisch fragil; wirklich sicher fühlt sie sich nur im Elternhaus.
Anlässlich der Hochzeit von Emily (Sarah Mahita) mit Chris (Aram Arami), einem leitenden Mitarbeiter des Vaters, ist die Familie nach langer Zeit zum ersten Mal wieder komplett beisammen: Bruder Felix (Merlin Rose), der vor sieben Jahren nach Kanada ausgewandert ist; Eva (Stefanie Reinsperger), die als Richards designierte Nachfolgerin an der Spitze der familieneigenen Gießerei in der Nähe von Aachen gilt; und schließlich die stets Zuversicht versprühende Leo (Morgane Ferru). In Wirklichkeit geht es jedoch weder Leo noch einem anderen Familienmitglied gut, auch nicht der Mutter, die bis heute damit hadert, dass sie zugunsten der Kinder ihre Karriere als Künstlerin aufgegeben hat.
Natürlich gehört es zum Handlungskern solcher Serien, dass beim Wiedersehen vernarbt geglaubte Verletzungen aufbrechen und alte Rechnungen auf den Tisch kommen. Dafür sorgt nicht zuletzt eine Entscheidung Richards, als er verkündet, dass er Chris zum Nachfolger erkoren hat. Die Firma ist in erheblichen finanziellen Schwierigkeiten, weshalb die vier Geschwister bei der Geschäftsübergabe auf ihre Pflichtanteile verzichten sollen. Eva ist entgeistert, aber auch Felix ist davon ausgegangen, dass der Vater ihn auszahlen wird. Mit dem Geld wollte er die Biofarm kaufen, die er bislang bloß gepachtet hat, deshalb erwartet er eine Kompensation für seinen Anteilsverzicht. Als Chris dann auch noch während der Nachtzugfahrt in die Flitterwochen verschwindet und sich das Entführungstrauma zu wiederholen scheint, eskalieren die gegenseitigen Vorwürfe.
Tilmann P. Gangloff, Diplom-Journalist und regelmäßiges Mitglied der Jury für den Grimme-Preis, schreibt freiberuflich unter anderem für das Portal evangelisch.de täglich TV-Tipps und setzt sich auch für "epd medien" mit dem Fernsehen auseinander. Auszeichnung: 2023 Bert-Donnepp-Preis - Deutscher Preis für Medienpublizistik (des Vereins der Freunde des Adolf-Grimme-Preises).
Wie all’ diese Geschichten lebt auch "Haus aus Glas" vom Kontrast zwischen der von diversen Sicherheitsvorkehrungen geschützten Fassade und den sorgsam kaschierten Wahrheiten. Das klingt nach Klischee, aber Esther Bernstorff und ihre drei Koautorinnen haben gerade die Geschwister mit einer bemerkenswerten charakterlichen Komplexität ausgestattet.
Alle spielen zwar innerhalb des familiären Gefüges eine bestimmte Rolle, führen aber in gewisser Weise eine Doppelexistenz: Felix, trockener Alkoholiker, dessen Rückfall absehbar ist, hat in Kanada Frau und Kind, was die anderen nicht wissen, und vor seiner Flucht nach Nordamerika große Schuld auf sich geladen.
Eva sorgt mit ihren sarkastischen Kommentaren regelmäßig dafür, dass unbequeme Wahrheiten zur Sprache kommen. Leo ist ihrer Standardfloskel "Alles gut" zum Trotz tablettensüchtig und hat große Angst davor, ihren Sohn an dessen Erzeuger zu verlieren. Emily wirkt wie der Fixstern der Sippe, hat jedoch das Gefühl, gar nicht dazu zu gehören. Wirklich bei sich scheint sie einzig während der Aufnahmen für ihren Astro-Kanal zu sein; die Familie weiß nicht, dass sie als "Milly*Star" eine sechsstellige Gefolgschaft hat.Auch die weiße Weste des aus kleinen Verhältnissen stammenden Vaters enthält einige Flecken, und selbst Chris ist nicht der Überflieger, für den ihn alle halten.
Der Schweizer Regisseur Alain Gsponer hat bereits mit seinem Grimme-preisgekrönten Drama "Das wahre Leben" (2006) gezeigt, wie gut er solche Familiengeschichten erzählen kann. Die Inszenierung ist konsequent der Handlung und dem außerordentlich guten Ensemble untergeordnet. Die Nebenfiguren sind gleichfalls markant besetzt. Ähnlich wichtig wie die Mitwirkenden ist der Schauplatz: Die Gespräche finden größtenteils in der Villa Schwarz statt. Das Haus ist wie eine Festung gesichert.
Gleich zu Beginn wird versehentlich ein Alarm ausgelöst, sämtliche Rollläden rasseln runter, die Szenerie ist plötzlich in eine unheilverkündende rote Notbeleuchtung getaucht, Emily wird prompt von einer Panikattacke heimgesucht; und das ist bloß ein Vorgeschmack auf die nun folgenden Ereignisse. Festungen sollen verhindern, dass Unbefugte eindringen können; aber es kommt auch niemand raus. Das "Erste" zeigt heute und morgen jeweils zwei Episoden ab 20.15 Uhr, die beiden restlichen folgen am Freitag ab 22.20 Uhr. Die Serie steht bereits komplett in der ARD-Mediathek.