Das bleibt auch erst mal so; einzig kurze grobkörnige Rückblenden deuten an, dass das Leben von Eva Jensen (Jennifer Ulrich) womöglich doch nicht so unbeschwert ist, wie es den Anschein hat. Die Tischlerin träumt von einer Werkstatt mit Meerblick: Sie hat ihre Zelte in Hamburg abgebrochen und möchte an der Ostsee neue Wurzeln schlagen; auf dem Darß hat sie vor dreißig Jahren den schönsten Sommer ihrer Kindheit verbracht.
Der eigentliche Anlass für die Rückkehr auf die Halbinsel entpuppt sich allerdings als Irrtum: Die annoncierte Werkstatt existiert zwar, ist jedoch nicht zu haben. Heide Kniepholt (Jutta Wachowiak) wollte Tatsachen schaffen, weil sie Geld für die Reparatur ihres Daches braucht, hat aber ihren Mann nicht informiert; und Strandkorbbauer Hinrich (Hermann Beyer) will sein Metier keineswegs aufgeben. Außerdem ist er vor einigen Jahren ausgezogen, sein Arbeitsplatz ist nun auch sein Zuhause. Bei einem Verkauf wäre er obdachlos, weshalb er versichert, er werde die Werkstatt nur "mit den Füßen voran" verlassen. Er bezweifelt ohnehin, dass Eva genug Aufträge bekäme, um sich über Wasser zu halten. Tatsächlich wollen die meisten Leute nichts mehr mit ihr zu tun haben, wenn sie erfahren, dass die Tischlerin keine Einheimische ist.
Weil die junge Frau nicht bloß ein heiteres Gemüt besitzt, sondern auch genauso hartnäckig sein kann wie der alte Hinrich, gelingt es ihr nach und nach trotzdem, das Vertrauen der Menschen zu gewinnen. Außerdem leistet sie erstklassige Arbeit; doch dann wird sie Opfer einer Intrige. Bis zu diesem Punkt könnte "Ostsee für Sturköppe" auch eine "Inga Lindström"-Episode sein, zumal Autorin Sarah Esser selbstredend noch eine Romanze einbaut, denn es gibt einen Konkurrenten beim Werkstattkauf: Christian Petersen (Max Woelky) hat mit seinem Bruder das elterliche Fischgeschäft übernommen, möchte sich aber mit einem Imbiss in Strandnähe selbstständig machen. Der schmucke Kite-Surfer hat es Eva schon bei der ersten Begegnung angetan, als beide noch nicht ahnen können, dass sie fortan gegeneinander um die Gunst des alten Hinrich buhlen.
Tilmann P. Gangloff, Diplom-Journalist und regelmäßiges Mitglied der Jury für den Grimme-Preis, schreibt freiberuflich unter anderem für das Portal evangelisch.de täglich TV-Tipps und setzt sich auch für "epd medien" mit dem Fernsehen auseinander. Auszeichnung: 2023 Bert-Donnepp-Preis - Deutscher Preis für Medienpublizistik (des Vereins der Freunde des Adolf-Grimme-Preises).
Da sich das Vorzeichen nun langsam wandelt, würde der Film, wenn überhaupt, eher in die ZDF-"Herzkino"-Reihe "Ein Sommer in …" passen, für die Esser in der Tat schon gearbeitet hat. Ein erster Tiefgang kommt ins Spiel, als Eva den Grund für die ablehnenden Haltung der Leute erfährt: Das Nachwendetrauma, als sie von den "Wessis" über den Tisch gezogen worden sind, sitzt nach wie vor tief.
Und dann fällt ein weiterer Schatten über die Geschichte: Eva ist überzeugt, dass sich Heide und Hinrich im Grunde immer noch lieben. Sie hofft, dass sie die beiden miteinander versöhnen kann, wenn sie den Grund für die Trennung rausfindet: Das Ehepaar hat einst seinen Sohn verloren. Heide erzählt, der Schmerz fühle sich manchmal so an, als sei das Unglück gerade erst passiert. Eva weiß genau, wovon sie spricht; nun zeigt sich auch, warum ihre Erinnerungen an den letzten Sommer der Kindheit mindestens genauso schmerzlich wie schön sind.
Schon Essers Drehbuch für den ARD-Freitagsfilm "Hausbau mit Hindernissen" (2017) war mehr als nur die übliche Komödie à la "Handwerker und andere Katastrophen". Diesmal schleicht sich allerdings ein tragischer Unterton in die Geschichte, auch die Musik (Cassis Birgit Staudt) wird getragener. Optisch würde die erste Langfilmregie von Joana Vogdt allerdings nach wie vor zum "Herzkino" passen, zumal die Bilder von Himmel und Meer auch weiterhin schön anzuschauen sind (Kamera: Peter Steuger).
Sehenswert ist "Ostsee für Sturköppe" jedoch vor allem wegen des Ensembles. Jennifer Ulrich versieht ihre Rolle mit einer geradezu ansteckenden natürlichen Herzlichkeit. Dass das Ehepaar Kniepholt ebenso wie Evas patente Vermieterin Trine (Claudia Geisler-Bading) von ostdeutschen Mitwirkenden verkörpert wird, mag letztlich nicht entscheidend sein, ist jedoch mehr als bloß eine Fußnote. Sehr sympathisch sind auch Details wie etwa der gehäkelte Drache, der Eva an ihre kleine Schwester erinnert. Als Trines Akkordeon-Combo "Drunken Saulor" anstimmt, nimmt die Filmmusik die Melodie auf und führt sie fort; eine Beiläufigkeit bloß, aber sie zeigt, mit welcher Sorgfalt die Tragikomödie gestaltet ist.