Beispiele gibt es zur Genüge, viele davon sehenswert und sogar preisgekrönt, mit mutigen und klugen Heldinnen, die echten Vorbildcharakter haben. In diese Reihe gehört auch "Die verkaufte Prinzessin". Anders als sonst basiert das Drehbuch allerdings nicht auf einer bekannten Vorlage, sondern auf verschiedenen bayerischen Sagen.
Der Film beginnt mit dem Auftritt der Hauptfigur. Zumindest der unbefangene jüngere Teil des Publikums wird ohne Rücksicht auf Gender-Sensibilität umgehend feststellen, dass es sich bei dem vermeintlichen jungen Mann offenkundig um eine Frau handelt. An diesem Manko scheitern ohnehin viele solcher Märchen schon im Ansatz: Um unbelästigt reisen zu können oder leichter Arbeit zu finden, geben sich Mädchen als Jungs aus, was aber stets auf Anhieb durchschaubar ist; außer für die Filmfiguren.
Melisa (Judith Kaufmann) ist in die Berge gekommen, weil sie im Bergwerk arbeiten möchte. Warum sich jemand diesen Knochenjob freiwillig antut, noch dazu als Frau, ist zwar ein Rätsel, aber ihr Großvater war ebenfalls Bergmann und hat ihr anscheinend derart tolle Geschichten erzählt, dass sie unbedingt in seine Fußstapfen treten möchte. Das Bergwerk ist jedoch seit einem Unglück geschlossen. Schuld an dem Einsturz des Stollens ist angeblich Berggeist Mehrich, der aus irgendeinem Grund Gefallen an Melisa findet und ihr fortan in wechselnder Gestalt zur Seite steht.
Tilmann P. Gangloff, Diplom-Journalist und regelmäßiges Mitglied der Jury für den Grimme-Preis, schreibt freiberuflich unter anderem für das Portal evangelisch.de täglich TV-Tipps und setzt sich auch für "epd medien" mit dem Fernsehen auseinander. Auszeichnung: 2023 Bert-Donnepp-Preis - Deutscher Preis für Medienpublizistik (des Vereins der Freunde des Adolf-Grimme-Preises).
Zu einer Geschichte und angemessen dramatisch wird die Handlung jedoch erst, als eine zweite weibliche Hauptfigur ins Spiel kommt: Prinzessin Sophia (Kristin Alia Hunold) soll die Nachfolge ihres noch gar nicht so alten, aber gebrechlichen Vaters (Pasquale Aleardi) antreten. Dessen Zwillingsbruder Rudolf will das verhindern und Sophias vierzehn Minuten jüngeren Zwilling (Langston Uibel) zum neuen Fürsten machen, damit er anschließend das Bergwerk neu eröffnen und sich das Gold unter den Nagel reißen kann.
Der junge Berthold ist kein schlechter Kerl, aber sein Onkel hat offenbar so lange auf ihn eingeredet, dass er nun selber glaubt, auf den Thron gehöre ein Mann. Damit ist die Botschaft derart klar, dass die Schlussbemerkung Mehrichs, der auch mal als Kräuterfee auftritt, im Grunde überflüssig ist: ob Frau oder Mann sei einerlei. Der fortschrittlich eingestellte Teil des erwachsenen Publikums hat längst an die "gläserne Decke" gedacht, die einen Aufstieg weiblicher Führungskräfte an die Spitze eines Unternehmens verhindert.
In diesem Märchen werden dagegen selbst die Räuber von einer Frau angeführt: Als Berthold und Sophie mit einem Auto (!) durch den Wald tuckern, werden sie von Wegelagerern überfallen. Melisa kann durch ihr beherztes Eingreifen zunächst Schlimmeres verhindern. Die beiden Frauen mögen sich auf Anhieb. Im weiteren Verlauf der Handlung liegt gar ein Kuss in der Luft, aber so weit wollten Su Turhan (Buch) und Matthias Steurer (Regie) im weihnachtlichen Nachmittagsprogramm dann wohl doch nicht gehen; für Kinder sind Melisa und Sophie gute Freundinnen. Die von Berthold initiierte Entführung der Prinzessin ist allerdings bloß aufgeschoben.
Nur auf den ersten Blick kühn ist hingegen die diverse Besetzung: Die Geschwister hatten eine schwarze Mutter. Aus historischer Sicht ist das gewagt, aber selbst im Rahmen der ARD-Märchen keine völlig neue Idee, vom internationalen Film ganz zu schweigen. Turhans Lieblingsfigur ist jedoch interessanterweise keine der beiden Frauen, sondern der etwas nervige Leibarzt (Konstantin Moreth) des Fürsten.
Der Krimiautor ("Kommissar Pascha") und Steurer haben zuletzt bei "Der starke Hans" (2020) zusammengearbeitet, ebenfalls (und dem Titel zum Trotz) ein ARD-Märchen mit starker weiblicher Hauptfigur. Der Film war allerdings auch dank Hauptdarstellerin Bianca Nawrath deutlich besser. "Die verkaufte Prinzessin" strahlt dagegen nicht die gewohnte Wärme aus, und das liegt sicher nicht nur an den kühlen Bildern; dem Film mangelt es auch an jener Mischung aus Leichtigkeit und Ironie, die in der Vergangenheit die herausragenden von den durchschnittlichen ARD-Märchen unterschieden hat.