Tatsächlich könnte die Geschichte mit "Es waren einmal zwei Schwestern" beginnen. Dass die beiden nach dem frühen Tod der Mutter nun auch den Vater verlieren, würde ebenfalls noch zum märchenhaften Charakter passen. Aber Léonie-Claire Breinersdorfer, die den gleichnamigen Roman von Petra Durst-Benning adaptiert hat, erzählt mit "Die Glasbläserin" (Erausstrahlung war 2016) allenfalls ein Märchen für Erwachsene, denn Johanna und Marie Steinmann (Luise Heyer, Maria Ehrich) wachsen in einer Welt auf, die für Frauen wie sie keinen Platz hat.
Die Geschichte spielt in den Neunzigerjahren des 19. Jahrhunderts im Thüringer Wald. Das Dörfchen Lauscha wird von der Tradition der Glasbläserei dominiert. Marie hat dem Vater von klein auf bei der Arbeit assistiert und würde sein Gewerbe gern fortführen, doch das Mundwerk ist ein Männerberuf. Immerhin finden die beiden jungen Frauen eine Anstellung in der Fabrik von Wilhelm Heimer (Max Hopp), der ihnen allerdings nur einen Hungerlohn zahlt. Außerdem duldet der Patriarch keinen Widerspruch, und da Johanna zu sagen pflegt, wenn ihr etwas nicht passt, wird sie bald wieder rausgeworfen. Die Kündigung hat jedoch auch ihr Gutes, denn Glasgroßhändler Strobel aus der Stadt macht sie zu seiner Assistentin. Peter (Robert Gwisdek), Glasaugenhersteller, Nachbar der Steinmanns und über weite Strecken der einzige Gentleman weit und breit, weist Johanna zwar darauf hin, dass der scheinbar großherzige Strobel keine Geschenke mache, ohne eine Gegenleistung zu erwarten, aber sie schlägt die Warnung in den Wind.
Die Besetzung dieser Rolle mit Dirk Borchardt, der damals fast immer als Schurke besetzt wurde, ist kein Zufall: Als Johanna das Geschäft vernachlässigt, um sich um Marie zu kümmern, lässt Strobel in einer aufgrund ihrer Intensität erschreckend brutal wirkenden Szene die Maske fallen. Marie hatte zuvor mit Thomas (Franz Dinda), dem Sohn ihres Arbeitgebers, ein ähnliches Erlebnis; spätestens in diesem Moment ist klar, dass "Die Glasbläserin" kein Film für die ganze Familie ist. Durch die Vergewaltigung wird Marie schwanger; Heimer zwingt Thomas, sie zu heiraten, aber der gewalttätige Trunkenbold ist eine denkbar schlechte Partie. Bald nach der Geburt flüchtet Marie zurück in ihr Elternhaus und widmet sich wieder voll und ganz der Glasbläserei. Als Strobels amerikanischer Großkunde auf der Suche nach neuen Ideen für das Weihnachtsgeschäft ihre Arbeit entdeckt, scheint das Auskommen der beiden Schwestern gesichert. Aber sie haben die Rechnung ohne den Zorn der männlichen Dorfbewohner gemacht, die keine Konkurrenz dulden; erst recht keine weibliche. Ausgerechnet der alte Heimer verhindert, dass den beiden Frauen echtes Ungemach widerfährt.
Regisseurin Christiane Balthasar hat nicht zuletzt dank der ZDF-Reihe "Kommissarin Heller" eine große Krimi-Erfahrung und weiß natürlich auch, wie man eine historische Geschichte spannend erzählt. Kostümbild und Ausstattung sind angemessen aufwändig und sorgen gemeinsam mit der Bildgestaltung (Hannes Hubach) und einem entsprechenden Licht dafür, dass die Zeit glaubwürdig zum Leben erweckt wird. Dank Balthasars Umsetzung wirken gerade die Werkstattszenen jedoch alles andere als museal oder gar verklärend, zumal die Arbeitsbedingungen miserabel sind. Die betont düster gefilmte Gegend (gedreht wurde in der Nähe von Prag sowie im südlichen Böhmen) verhindert ebenfalls, dass eine heimelige Atmosphäre entsteht. Dennoch trägt die Geschichte der beiden Schwestern, deren eigentlich von großer Zuneigung geprägte Beziehung angesichts der existenziellen Not immer gereizter wird, sehr moderne Züge: Was Johanna bei Strobel erlebt, wäre mit der Beschreibung "sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz" absurd verharmlost; und wie es Marie nach der für die damalige Zeit ohnehin unerhörten Trennung von Thomas gelingt, sich als alleinerziehende Mutter durchzuschlagen, nötigt größten Respekt ab. Deshalb ist "Die Glasbläserin" aller Tristesse zum Trotz nicht deprimierend, zumal die beiden Schwestern schließlich neben dem geschäftlichen und dem künstlerischen auch noch ihr privates Glück finden. Die Musik (Johannes Kobilke), in Filmen dieser Art für gewöhnlich getragen und erdenschwer, ist ohnehin ungewöhnlich melodiös.