Eine Frau erfährt freitags, dass sie womöglich Blutkrebs hat, muss auf die endgültige Diagnose aber bis Montag warten: Das ist der Handlungskern von "Hanne", einem tagebuchartig konzipierten Drama, dessen Titelheldin von einem Moment auf den anderen den Boden unter den Füßen verliert; Beate Langmaack (Buch) und Dominik Graf (Regie) haben dafür 2020 den Grimme-Preis bekommen. "Mein Falke", ihre zweite Zusammenarbeit, erzählt eine gänzlich andere Geschichte, aber mit ähnlich angelegter Hauptfigur: Inga Ehrenberg (Anne Ratte-Polle) ist forensische Biologin im Wolfsburger Institut für Rechtsmedizin. Anhand der Besiedlung einer zum Beispiel im Wald gefundenen Leiche durch Insekten ist sie in der Lage zu bestimmen, wie lange ein Mensch bereits tot ist. Ihre Arbeit ist ihr Lebensinhalt; erst recht, seit ihr Mann sie verlassen hat.
Das ändert sich, als ein Falkner sie bittet, sich eines Jungtiers anzunehmen. Inga nennt den Vogel Giovanni, richtet ihm eine Voliere ein und offenbart hinter ihrem beinahe schroff wirkenden Wesen unvermutetes Feingefühl. Was sie beim verbitterten Vater (Jörg Gudzuhn) an Empathie vermissen lässt – der alte Ehrenberg ist überzeugt, sie werde sich erst für ihn interessieren, wenn man ihn eines Tages tot im Unterholz findet –, lebt sie im Umgang mit dem Tier aus. Als sich Giovanni bei seinem ersten Freiflug aus dem Staub macht, wird ihr klar, wie allein sie in Wirklichkeit ist.
Die Liste der Auszeichnungen, die Graf bislang erhalten hat, ist so umfangreich wie bei anderen Regisseuren die Filmografie. Mitunter wirken seine Inszenierungen allerdings etwas manieriert. Die Inszenierung von "Mein Falke" ist dagegen fast schon schlicht. Der kurzweilige Film konzentriert sich voll und ganz auf seine formidable Hauptdarstellerin; gerade die Szenen mit dem Falken waren zudem sicher nicht einfach zu drehen. Langmaack, nicht ganz so oft geehrt wie Graf, aber ebenfalls mehrfache Grimme-Preisträgerin (unter anderem für "Guten Morgen, Herr Grothe" und "Zeit der Helden"), hat ihr Drehbuch sehr episodisch strukturiert. Graf spricht von einem kreuzwegartigen "Stationsdrama", zumal zunächst nicht klar ist, welcher der verschiedenen Handlungsstränge der rote Faden des Films ist: hier Ingas Arbeit, dort die Besuche bei Vater Hermann, schließlich die Beschäftigung mit Giovanni.
Maßgeblichen Anteil an der Verknüpfung dieser Ebenen hat eine junge Frau, die sich aufdringlich in Ingas Leben drängelt: Charlotte (Olga von Luckwald) ist die Tochter einer kürzlich verstorbenen Nachbarin Hermanns. Der Alte hat ihr gestanden, dass er ihr Vater sei. Das kann zwar eigentlich nicht sein, aber prompt fühlt sich Charlotte, die als "Stullenfee" einen Sandwich-Service betreibt, zu Inga hingezogen.
Tilmann P. Gangloff, Diplom-Journalist und regelmäßiges Mitglied der Jury für den Grimme-Preis, schreibt freiberuflich unter anderem für das Portal evangelisch.de täglich TV-Tipps und setzt sich auch für "epd medien" mit dem Fernsehen auseinander. Auszeichnung: 2023 Bert-Donnepp-Preis - Deutscher Preis für Medienpublizistik (des Vereins der Freunde des Adolf-Grimme-Preises).
Die Biologin wimmelt die vermeintliche Halbschwester zwar ziemlich unwirsch ab, aber die lässt nicht locker. Wie sich zwischen den beiden gänzlich unterschiedlichen Frauen Ingas Widerstand zum Trotz eine Freundschaft entwickelt, ist ebenso schön ausgedacht wie gespielt.
Die beiden anderen Stränge haben dagegen fast dokumentarischen Charakter. Das gilt vor allem für die kriminalistische forensische Arbeit, weil sie maßgeblich zur Klärung unklarer Todesfälle beiträgt. Besonders faszinierend ist ein Auftrag, bei dem Inga auf Wunsch der Nachkommen aus dem Knochengewirr eines Zwangsarbeitermassengrabs die Gebeine eines Holländers bergen soll. Anschließend fungiert sie gewissermaßen als Führerin durch eine Ausstellung über die Geschichte der Zwangsarbeiter im Volkswagenwerk. Fesselnd ist auch die Dressur des Falken. Nach und nach zeigt sich zudem, dass die drei zunächst unverknüpft nebeneinander her laufenden Erzählungen verschiedene Facetten des gleichen Themas behandeln: Es geht um Verlust und Einsamkeit. Hermann lebt allein, seit seine Frau vor geraumer Zeit Richtung Asien ausgebrochen ist, um dort nach dem Sinn des Lebens zu suchen, und auch Ingas Heim ist eine Art Mausoleum der einstigen Ehe. Das ändert sich, als Giovanni einzieht; der neue Mitbewohner sorgt am Ende indirekt dafür, dass auch sie in ein neues Leben aufbricht.
Sehr sympathisch ist nicht zuletzt die mitunter fast improvisiert wirkende Leichtigkeit, mit der Graf Ingas Geschichte auch dank diverser unerwarteter Heiterkeiten umgesetzt hat. Das gilt selbst für die eigenbrötlerischen Momente, wenn sie die Einladung einer Kollegin zum Karaoke ausschlägt und lieber daheim allein mit einem Bier auf dem Sofa singt; oder wenn sie nach Hause kommt und erfreut zur Kenntnis nimmt, dass der Anrufbeantworter keine neuen Nachrichten enthält.