Vor zwei Wochen wurde der Rechtsradikale Geert Wilders zum Wahlsieger in den Niederlanden. Wegen seiner pauschalen, primitiven Verunglimpfungen des Islam hatte ihm Großbritannien 2009 die Einreise verweigert. In den USA greift Donald Trump erneut nach der Macht und kündigt an, dass er sich nicht um demokratische Normen und Grundrechte scheren wird. Ihm dient der ungarische Premier, Viktor Orbán, als Vorbild, und in Polen gelang es Jaros?aw Kaczy?ski – zumindest bislang – eine funktionierende Demokratie in ein autoritäres System zu verwandeln. Indien verdient womöglich nicht mehr den Namen der größten Demokratie der Welt.
Hitler ist natürlich das krasseste Beispiel dafür, wie jemandem die Macht zufällt und er eine Demokratie dann, mehr oder weniger legal, zur Diktatur umbaut. Deshalb sagte einer der Urheber des deutschen Grundgesetzes, Carlo Schmid: Man müsse den Mut haben "zur Intoleranz denen gegenüber, die die Demokratie missbrauchen, um sie aufzuheben." Nun stehen bald Landtagswahlen in Brandenburg, Sachsen und Thüringen an, und stets führt die AfD in den Umfragen. Auch wenn das ein kleineres Kaliber ist als "Hitler", fragt man sich: was tun?
Vor zehn Tagen hat eine Gruppe von Aktivist:innen mit einer gefälschten Videoansprache für ein AfD-Verbot geworben: In dem Deepfake kündigt Olaf Scholz scheinbar ein Verbotsverfahren gegen die AfD an. Sollte man die AfD verbieten? Ich bin für ein anderes Vorgehen. Ein breites Bündnis von Politiker:innen soll Björn Höcke vor dem Bundesverfassungsgericht anzeigen, weil er ein einflussreicher Rechtsextremist ist, der sich für die Abschaffung der freiheitlichen Demokratie einsetzt. Eine Petition zu diesem Zweck ist bereits in Umlauf. Das Gericht soll Höcke das Recht entziehen, sich als thüringischer Spitzenkandidat zur Wahl zu stellen. In Artikel 18 des Grundgesetzes heißt es: Wer seine eigenen Grundrechte dazu missbraucht, um die freiheitlich-demokratische Grundordnung abzuschaffen, hat selbst wichtige Grundrechte verwirkt.
Parteiverbot?
Ein Verbot der AfD wurde bereits vielfach diskutiert. Das Grundgesetz würde solch ein Verfahren ermöglichen. Anzeige erstatten kann die Bundesregierung, der Bundestag oder der Bundesrat; das Urteil fällt das Bundesverfassungsgericht. Es fragt sich aber: Wie viele verfassungsfeindliche Aussagen aus einer Partei muss man beibringen, damit die Bestrafung mit dem Verbot auch für solche Parteimitglieder gerechtfertigt ist, die sich nicht selbst verfassungsfeindlich äußern? Das offizielle Parteiprogramm der AfD selbst wird man nämlich nicht als verfassungsfeindlich bezeichnen können. Die ehemalige Verfassungsrichterin Gertrude Lübbe-Wolff etwa hat sich eher skeptisch zu einem Parteienverbot ausgesprochen.
Sollte der Versuch eines Parteienverbots scheitern, etwa aufgrund von juristischen Feinheiten, wäre der Schaden umso größer. Die AfD könnte dann mit dem zweifelhaften Anspruch auftreten, das Verfassungsgericht habe bestätigt, dass die Partei verfassungskonform sei – und die viele Kritik an ihr bloßer Neid. Der Fall Hubert Aiwanger hat gezeigt: Ein rechtslastiger Politiker wird an der Wahlurne klar profitieren, wenn er sich als ein David inszeniert, dem ein Goliat unfairerweise ein Bein stellt.
Das Verwirken bestimmter Grundrechte
Eine andere Angelegenheit ist dagegen ein Verfahren gegen ein Individuum wegen verfassungsfeindlicher Umtriebe. Hier wäre zu prüfen, ob sich der Angeklagte demokratiefeindlich betätigt. Dann kann ihm laut "Bundesverfassungsgerichtsgesetz" das Recht entzogen werden, sich zur Wahl zu stellen. Anders als bei dem pauschalen Verbot einer Partei, von dem sehr unterschiedliche Politiker:innen betroffen sein können, lassen sich hier Vergehen klarer dem einzelnen Täter zuordnen, und nur er oder sie wird direkt bestraft.
Der Journalist und Jurist Heribert Prantl nennt ein Verfahren gegen Höcke einen "notwendige(n) Warnschuss und eine symbolträchtige verfassungsrechtliche Sanktion". Doch es handelt sich nicht nur um das. Wir bestrafen Verbrechen nicht bloß, um eine Warnung auszusprechen oder um des symbolischen Werts willen. Artikel 18 stellt nüchtern eine juristische Tatsache fest: Wer bestimmte eigene Grundrechte "zum Kampfe gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung mißbraucht, verwirkt diese Grundrechte."
Menschen, die etwa ihr Grundrecht der Meinungsfreiheit so ausüben, dass sie dabei die Verfassung angreifen, erschleichen sich Freiheiten und Rechte, die ihnen gar nicht zustehen. Wer andererseits solche verfassungsfeindlichen Aktivitäten nicht ahndet, lässt damit durchgehen, dass der Schutz der Grundrechte und der Menschenwürde untergraben wird. Ist jemand dem Anschein nach seit längerem in wirksamen demokratiefeindlichen Umtrieben begriffen, dann ist eine Anzeige nicht bloß eine Option, die Politiker aus symbolischen, pädagogischen oder taktischen Erwägungen ziehen können oder auch nicht. Die Anzeige schulden sie der Bundesrepublik Deutschland.
Angriffe auf die freiheitlich-demokratische Grundordnung
Seit Höcke die AfD Thüringen 2013 mitbegründet hat, war er stets Spitzenkandidat bei Landtagswahlen und Fraktionschef; seit 2014 ist er (mit Stefan Möller) außerdem Sprecher beziehungsweise Landesvorsitzender. In seinem Kapitel zur AfD ist der Verfassungsschutzbericht Thüringen 2021 auf weite Strecken ein Höcke-Bericht. Das Fazit lautet, dass die AfD "gesichert rechtsextremistisch" ist. So verhält es sich auch beim Bericht 2022, der die AfD "eine erwiesen rechtsextremistische Bestrebung gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung" nennt.
In die Berichte konnten unter anderem zwei Fälle noch nicht eingehen, in denen die Staatsanwaltschaft Anklage gegen Höcke erhebt. So wurde etwa im Mai Strafanzeige erstattet, weil Höcke auf einer politischen Veranstaltung eine verbotene SA-Parole gerufen hat.
Insgesamt dürfte eine Anzeige wegen Verfassungsfeindschaft mehrere Kategorien umfassen:
1) Verstöße gegen das Prinzip der Grundrechte;
2) Missachtung des Demokratieprinzips und
3) Geringschätzung der Menschenwürde.
4) Geschichtsrevisionismus und
5) Antisemitismus spielen dabei eine Sonderrolle: Wer gegen Juden hetzt und den Nationalsozialismus verharmlost, zeigt eine Geistesverwandtschaft mit einem krassen Unrechtsregime.
Das Prinzip der Grundrechte
Höcke ist durch die wiederholte Beschwörung aufgefallen, die deutsche Politik müsse bestimmten Gruppen die Rechte aberkennen und sie deportieren (ein "großangelegte(s) Remigrationsprojekt"; er zeigt Sympathien für "gewaltsamste Verfahren"). Es müsse einen "Aderlass" geben. Dabei stünde schon ein Stopp der Aufnahme von Geflüchteten im Widerspruch zu den Grundrechten des Grundgesetzes.
Das Demokratieprinzip
Den Regierenden in Deutschland spricht Höcke pauschal die Legitimität ab, als zählten die Resultate demokratischer Wahlen nicht. Er spricht oft von Parteien im verächtlichen Ton, obwohl – oder weil – sie ein wesentlicher Bestandteil unserer freiheitlichen Demokratie sind.
Ebenso meint er, Deutschland müsse "die sogenannte Zivilgesellschaft, die sich aus Steuergeldern speist, leider trockenlegen müssen." Eine Stilllegung der Zivilgesellschaft verfolgte der Nazistaat mit der Strategie der Gleichschaltung; er zeigte seine totalitäre Eigenart in Verbot oder Sabotage von gesellschaftlich-politisch relevanten Vereinen und Assoziationen wie etwa Gewerkschaften und Kirchen. Ohne solche zivilgesellschaftlichen Entfaltungsmöglichkeiten muss eine pluralistische Demokratie verkümmern.
Antisemitismus
Höcke hat viel Aufmerksamkeit erfahren, als er mit krudem pseudo-biologischem Rassismus große Gruppen abwertete. Solche Verstöße gegen die Menschenwürde wären in einem Verfahren zu Artikel 18 relevant. Sein Geschichtsrevisionismus10 ist ebenfalls weithin bekannt. Bemerkenswert ist schließlich sein Antisemitismus. Er erklärte, "Christentum und Judentum stellen einen Antagonismus dar". In anderen Aussagen bedient sich Höcke eines antisemitischen Codes, wie der Bayerische Verfassungsschutz feststellte: Die EU folge einem " volkszersto?renden … Ungeist eines George Soros", und Angela Merkel sei eine "Soros-Kundin". Unter dem Pseudonym "Landolf Ladig" beklagte Höcke außerdem eine vermeintlich herrschende "Zinsknechtschaft", einen "zinsverursachte(n) Wachstumszwang" und das "Zinsgeldsystem".
Ausblick
Der Politologe Jan-Werner Müller schreibt provokant, die Demokratie ist etwas für Verlierer –?und das ist gut so. Der Wahlsieg wird nicht auf Dauer gestellt; wer in einer Wahl unterliegt, erhält beim nächsten Mal wieder die Chance, die Wähler für sich einzunehmen. Es lässt sich ergänzen: Der stetige Wettbewerb der Ideen und des Engagements bringt längerfristig die besseren Ansätze zur Bewältigung sozialer Probleme hervor, auch wenn Demokratien immer wieder gefährdet sind.
Aus christlicher Perspektive kann man aber auch noch in einem anderen Sinn sagen: Die freiheitliche Demokratie ist etwas für Verlierer – und das ist gut so. Menschengruppen kommen unter die Räder, werden politisch untergebuttert oder entrechtet, das bleibt in keinem politischen System aus. Am ehesten kommen sie aber in einer Demokratie wieder zu ihrem Recht. Ein autoritärer Führer mag einer Gruppe vereinzelt Recht verschaffen, wird aber längerfristig umso mehr Menschen Unrecht antun. Christ:innen sollten ein Herz für die Entrechteten haben, weil Jesus Christus zu ihnen gehörte. Deshalb sollten sie als Christen auch ein Herz für die Demokratie haben.
Deshalb ist es auch aus christlicher Perspektive geboten, dass das Bundesverfassungsgericht dem Demokratiefeind Björn Höcke die Möglichkeit nimmt, sich für den thüringischen Landtag zu bewerben. In Carlo Schmids14 Worten: "Es soll sich jener nicht auf die Grundrechte berufen du?rfen, der von ihnen nur Gebrauch machen will zum Kampf gegen die demokratische und freiheitliche Grundordnung."