Weil die zehnjährige Alma unter schwerem Asthma leidet, sind die Eltern mit ihr und dem kleinen Bruder ins Heimatdorf des Vaters nach Tirol gezogen. Bereits in der ersten Nacht hat Alma die Erscheinung einer jungen Frau, die ihr einen Ring überreicht. Sie heißt Marianne und ist vor vierzig Jahren am Muttstein verunglückt. Alma weiß genau, wo der schmelzende Gletscher, dessen langsames Sterben durch allgegenwärtige Rinnsale verdeutlicht wird, die perfekt erhaltene Leiche freigibt. Ihre Mutter Lucia (Brigitte Hobmeier) ist Ärztin und besteht auf einer Obduktion, die ihren Verdacht bestätigt: Der vermeintliche Unfall war ein Mord.
Die insgesamt ohnehin sehr unaufgeregt inszenierte Serie braucht allerdings einen langen Anlauf. Die ersten drei Folgen hätten sich deutlich straffer konzipieren erzählen lassen (Buch: Michaela Taschek sowie Jürgen Schlagenhof und Kathrin Richter), aber spätestens mit Almas Verschwinden am Berg entwickelt "Schnee" große Spannung. Die übersinnlichen Details sind vergleichsweise zurückhaltend umgesetzt (Regisseurin der Episoden eins und zwei war die ORF-"Landkrimi" erprobte Catalina Molina), es gibt keinerlei Horroreffekte.
Im Vordergrund steht zunächst die ausführliche Einführung der Figuren: Lucia und ihr Mann sind ein offenkundig glückliches Paar, dessen Beziehung später, als sich Matthi (Robert Stadlober) zwischen seinen Wurzeln und seiner Ehe entscheiden muss, in eine heftige Krise gerät. Dabei hat er gerade zu seinem Übervater (Karl Fischer), der ihm während einer Meinungsverschiedenheit auch mal eine Ohrfeige verpasst, kein gutes Verhältnis.
Tilmann P. Gangloff, Diplom-Journalist und regelmäßiges Mitglied der Jury für den Grimme-Preis, schreibt freiberuflich unter anderem für das Portal evangelisch.de täglich TV-Tipps und setzt sich auch für "epd medien" mit dem Fernsehen auseinander. Auszeichnung: 2023 Bert-Donnepp-Preis - Deutscher Preis für Medienpublizistik (des Vereins der Freunde des Adolf-Grimme-Preises).
Der alte Hotelier Bruno wiederum repräsentiert den Frevel, den die Menschen an der Natur treiben: Er will die Kuppe des Muttstein wegsprengen lassen, um mit dem Bau einer Expressgondel neue Touristen ins Dorf zu locken. Auf dieser Ebene treffen sich Ökologie und Mystery: Einer alten Sage zufolge soll eine alle paar Generationen wechselnde Hüterin der Berge dafür sorgen, dass die Menschen im Einklang mit der Natur leben; offenbar ist Alma dazu erkoren, Mariannes Nachfolge anzutreten. Als sie im Schneetreiben entschwindet, entwickelt die Serie endlich eine Dramatik auch jenseits der zwischenmenschlichen Spannungen. Nun rückt Lucia ins Zentrum der Geschichte: Endgültig rätselhaft wird die Handlung, als die Ärztin, einst ein Findelkind, bei der Autopsie die verblüffende Übereinstimmung eines körperlichen Merkmals mit Mariannes ungeborenem Baby entdeckt; und das ist zu ihrer großen Verwirrung längst nicht das einzige Detail, das ihr Schicksal mit dem der Eisleiche verknüpft.
Ihre mehrfachen Begegnungen mit einem Wolf sind selbstredend ebenfalls kein Zufall: Marianne hat die Wölfe einst wieder in der Gegend angesiedelt; das hat im Dorf nicht allen gefallen. Endgültig mysteriös wird die Geschichte, als auch Lucia eine offenbar übersinnliche Begegnung hat: In den Räumlichkeiten der Rechtsmedizin begegnet sie dem Freund des Opfers. Jakob will sich von seiner Geliebten verabschieden; später erfährt sie, dass auch er vor langer Zeit gestorben ist.
Sehenswert ist "Schnee" nicht zuletzt wegen des Augenfutters: Kamerafrau Leah Striker hat ihre ohnehin sorgfältige Bildgestaltung um prachtvolle Aufnahmen der Bergwelt ergänzt (Drehort waren die Dolomiten in Südtirol sowie in der Alpenzone Venetiens). Auch das Ensemble der österreichisch-deutschen Koproduktion ist gut zusammengestellt. Viele Mitwirkende mögen hierzulande kaum bekannt sein, setzen aber prägnante Akzente. Gerade die junge Laeni Geiseler ist in der wichtigen Rolle als Alma ausgezeichnet geführt worden (Regisseurin der Folgen drei bis sechs war Esther Rauch).
Sehr präsent ist vor allem Sylvia Eisenberger als Mariannes Mutter Aurelia. Die scheinbar verwirrte alte Frau warnt eindringlich vor der Rache des Berges und stellt schließlich düster fest: "Der Tag des Zorns ist gekommen." Der entsprechend bedrohlich über dem Dorf thronende Muttstein ist ohnehin ein weiterer Hauptdarsteller. Der Riss, der sich im Vorspann durch die Landschaft zieht, nimmt vorweg, welche Folgen der Eingriff der Menschen in die Natur haben wird. Gegen Ende wird es endgültig mysteriös, als der Berg in eine purpurne Aura gehüllt ist, allerdings bleiben auch viele Fragen offen. Das "Erste" zeigt heute die Teile eins bis drei, der Rest folgt am Freitag ab 22.20 Uhr. Die Serie steht bereits komplett in der ARD-Mediathek.