Ihr Satz würde lauten: "Ich höre tote Menschen", denn die Leichen sprechen mit ihr. Ob sie sich das einbildet und die Toten bloß Projektionsfläche für ihre Gedanken sind, bleibt offen, aber eine Rückblende in ihre Teenagerjahre deutet an, dass die Verstorbenen durchaus ein Eigenleben führen. Für die eigentliche Handlung dieser sechsteiligen Serie spielt das ohnehin keine Rolle, denn das auf dem gleichnamigen Roman von Bernd Aichner basierende Drehbuch erzählt eine ganz andere Geschichte, und die beginnt mit einem Schock.
Als Blums Mann Mark, ein Kleinstadtpolizist irgendwo in den Tiroler Alpen, mit seinem Motorrad zur Arbeit fahren will, wird er von einem Auto erfasst. Weil die örtliche Polizei mit Ausnahme seines Freundes Massimo (Felix Klare) wenig Ehrgeiz zeigt, den flüchtigen Fahrer ausfindig zu machen, übernimmt Blum die Suche kurzerhand selbst. Ginge es nur um diesen Aspekt, würde der Stoff gerade mal für einen Fernsehfilm reichen; aber in Marks Sachen stößt die Bestatterin auf einige seltsamen Hinweise. Sie führen sie schließlich zu einer Osteuropäerin, die ihr Mann in einer Waldhütte versteckt hat: Dunja (Romina Küper) ist die einzige Zeugin eines Verbrechens von derartiger Grausamkeit, dass es mit Worten kaum zu beschreiben ist. Nun beginnt die Witwe einen Rachefeldzug, in dessen Verlauf einige angesehene Bürger auf der Strecke bleiben; und wer könnte die Leichen besser verschwinden lassen als eine Bestatterin.
Die Handlung ist auch dank diverser Rückblenden von eindrucksvoller Vielschichtigkeit. Schon die Auftakttaktfolge deutet noch vor dem clever gestalteten Vorspann an, warum die etwas unempathisch wirkende Bestatterin auch als Mörderin gut schlafen kann, wie sie ihrem Mitarbeiter Reza (Yousef Sweid) versichert. Netflix hat die Serie bei der Erstausstrahlung zu Beginn des Jahres ab 16 Jahren empfohlen, und das ist nicht allein wegen der dargestellten Gewalt durchaus angebracht; Dunjas alptraumhafte Erinnerungen sind der pure Horror. Blums Arbeit mit den Verstorbenen könnte ebenfalls verstörend wirken, und das nicht nur, weil sie scheinbar zum Leben erwachen: Als eine Leiche nicht in den Sarg passt, wird sie eben passend gemacht.
Tilmann P. Gangloff, Diplom-Journalist und regelmäßiges Mitglied der Jury für den Grimme-Preis, schreibt freiberuflich unter anderem für das Portal evangelisch.de täglich TV-Tipps und setzt sich auch für "epd medien" mit dem Fernsehen auseinander. Auszeichnung: 2023 Bert-Donnepp-Preis - Deutscher Preis für Medienpublizistik (des Vereins der Freunde des Adolf-Grimme-Preises).
Großen Anteil an der Komplexität hat die charakterliche Tiefe vieler Figuren. Blum dürfe niemandem trauen, schärft ihr eine Frau ein, die Mark zu Dank verpflichtet ist, und tatsächlich entpuppt sich so mancher Sympathieträger als Unhold, weshalb es umso bedauerlicher ist, dass die Herrscherin (Michou Friesz) des Tals auf Anhieb als eiskalte Gegenspielerin identifizierbar ist. Der Rest der rund ein Dutzend Nebenfiguren ist weniger eindeutig und zudem mit unter anderem Simon Schwarz, Shenja Lacher, Gregor Bloéb, Robert Palfrader und Gerhard Liebmann hochinteressant besetzt. Eine gleichermaßen winzige wie wichtige Rolle spielt Peter Kurth als Investor in die Pläne der "Schneekönigin" vom größten Skigebiet Europas. Der Mann ergreift erst ganz zum Schluss das Wort, liefert damit aber die Vorlage für eine mögliche Fortsetzung.
Sicherlich hätte sich "Totenfrau" auch deutlich kürzer erzählen lassen. In jeder Folge schwingt sich Blum zum Beispiel mehrfach auf Marks Motorrad, um waghalsig durch die verschneite Landschaft zu rasen; das sorgt zwar dank der interessanten, mitunter aber zu bombastischen Musik (Patrick Kirst) für allerlei Dynamik, ufert aber auch ein bisschen aus. Umso fesselnder ist die Krimiebene, zumal die sechste Episode, als die Geschichte zu Ende zu sein scheint, für eine raffiniert eingefädelte Wende sorgt. Ungewöhnlich ist auch die Rolle für Anna Maria Mühe, denn bevor die Witwe die Mitglieder der Mörderbande ins Jenseits befördern kann, muss sie sich regelmäßig ihrer Haut erwehren.
Filmische Prügeleien sind in der Regel detailliert choreografiert, aber die sehr echt wirkenden Handgreiflichkeiten lassen vermuten, dass sie der Hauptdarstellerin dennoch einige blaue Flecke beschert haben. Regisseur Nicolai Rohde, der auch an der Arbeit des insgesamt fünfköpfigen Drehbuchteams beteiligt war, hat zuletzt mit Axel Milberg einen vor allem hintergründig spannenden Krimi aus Kiel ("Tatort: Borowski und der Schatten des Mondes", 2022) und davor unter anderem für Sat.1 die beiden sehenswerten "Julia Durant ermittelt"-Krimis (2019) gedreht. Die ARD zeigt alle Folgen (unterbrochen durch die Tagesthemen um 23.00 Uhr) hintereinander.