Noch am Dienstag Abend hatte Annette Kurschus in einer persönlichen Erklärung auf der Synode der EKD in Ulm die erneuten Vorwürfe ihrer Mitwisserschaft in Bezug auf den Missbrauchsverdacht gegen einen damaligen kirchlichen Mitarbeiter in Siegen zurückgewiesen. Sie sei entsetzt und wütend, von diesen furchtbaren Schilderungen über eine Person zu erfahren, von der sie bisher nur ein anderes Gesicht wahrgenommen habe, sagte sie am Rednerpult. Und, sie habe sich intensiv selbst geprüft und sich die Frage gestellt, ob sie etwas übersehen habe.
Die Vorwürfe gegen den mutmaßlichen Täter reichen den Berichten der "Siegener Zeitung" zufolge zum Teil bis in die 1990er-Jahre zurück. Der konkrete Vorwurf lautet: Annette Kurschus, soll in ihrer Zeit als Pfarrerin in Siegen über die Vergehen des ihr bekannten Kirchenmitarbeiters informiert worden sein und nichts unternommen haben. Darüber hinaus sei Kurschus auch die Patin eines Kindes des mutmaßlichen Täters, heißt es in dem Bericht der Zeitung weiter.
In Siegen hat Annette Kurschus ihre persönliche Laufbahn begonnen. Sie war dort Vikarin, Pfarrerin und von 2005 bis 2012 Superintendentin des Kirchenkreises Siegen. Nach ersten Berichten der "Siegener Zeitung" war vor wenigen Tagen zunächst klar geworden, dass Kurschus, in dieser Zeit auch den mutmaßlichen Missbrauchstäter gut gekannt habe. In der Folgeberichterstattung schrieb die "Siegener Zeitung", dass ihr die Aussage eines Mannes vorläge, der bereits Ende der 90er Jahre kirchliche Amtsträger in Siegen über die Vorwürfe gegen den Kirchenmitarbeiter informiert haben will. Eine Gesprächspartnerin sei Kurschus gewesen, zu der Zeit Gemeindepfarrerin in Siegen. Der Mann habe nach eigenen Angaben um ein Gespräch mit Kurschus und einer weiteren Siegener Pfarrerin gebeten, nachdem er von einem sexuellen Übergriff des heute Beschuldigten erfahren habe.
Ein Gespräch im Garten mit Folgen
Dieses Gespräch soll nach Informationen der "Siegener Zeitung" im Garten von Annette Kurschus stattgefunden haben. Mit dabei gewesen sein sollen drei weitere Männer, welche Kurschus ebenfalls die Missbrauchsvorwürfe gegen den Kirchenmann vorbrachten – darunter auch ein mutmaßliches Opfer, heißt es weiter. Man habe "explizit und detailliert" über die sexuellen Verfehlungen des Kirchenmitarbeiters berichtet, sagte einer der Gesprächsteilnehmer von damals gegenüber der Zeitung. Und er sei nach diesem Termin fest davon überzeugt gewesen, dass die Verantwortlichen etwas machen müssten.
Etwas geschehen ist damals offenbar nicht. Nach der Veröffentlichung durch die lokale Zeitung sagte Kurschus: "Dass ich die seit Anfang dieses Jahres beschuldigte Person aus der Zeit meiner jahrzehntelangen Tätigkeit im Kirchenkreis Siegen gut kenne, ist allgemein bekannt. Hinweise auf sexualisierte Gewalt hat es in dieser Zeit mir gegenüber nicht gegeben." Darüber hinaus sagte sie, dass sie zu den Hintergründen aufgrund der laufenden Untersuchungen der Staatsanwaltschaft im Tatkontext keine tiefer gehenden Erklärungen abgeben dürfe.
Geht es um Missbrauch von Schutzbefohlenen?
Der beschuldigte kirchliche Mitarbeiter, der heute bereits in Rente ist, soll sexuelle Beziehungen zu mindestens acht jungen Männern gehabt haben, die, so schreibt es die "Rheinische Post" in ihrer Ausgabe am Freitag, zuvor bei dem Beschäftigten Musikunterricht erhalten haben sollen. In dem Siegener Fall ermittelt die Staatsanwaltschaft. Eine anonyme Strafanzeige aus dem Kirchenkreis hatte die Ermittlungen ausgelöst.
Aus Sicht der Staatsanwaltschaft sehe es danach aus, dass der Beschuldigte, ein ehemaliger Mitarbeiter des Kirchenkreises, seine Stellung ausgenutzt habe, um erwachsene junge Männer "irgendwie zu verführen, dass sie mit ihm homosexuelle Handlungen vornehmen". Nach den bisherigen Ermittlungen werde davon ausgegangen, dass die mutmaßlichen Geschädigten zum Zeitpunkt der Vorfälle volljährig gewesen seien. Für die Staatsanwaltschaft stelle sich allenfalls die Frage, ob es sich um einen Missbrauch von Schutzbefohlenen handeln könnte oder ob es strafrechtlich nicht zu erfassen sei, weil ein Erwachsener auch Nein sagen könne. Das werde noch geprüft.
Nach damaligen Bestimmungen seien diese Annäherungen vermutlich meldepflichtig gewesen – und sie seien es ganz sicher nach den heute in der Evangelischen Kirche geltenden Regeln, kommentierte das Online-Magazin Eule zu diesem Fall.
"Unsere Kirche steht dafür, dass die Betroffenen im Mittelpunkt stehen - das wird sie auch erreichen", sagte Kurschus noch am Dienstag auf der Synode. Inwieweit sie sich selbst an dieser Aussage misst, erscheint angesichts der Wendungen in Bezug auf den Siegener Fall fragwürdig.
Am letzten Tag der EKD-Synode versuchte Präses Anna-Nicole Heinrich vor Journalist:innen das Geschehen vom Dienstagabend einzuordnen. Sie sagte, dass nicht alle Synodalen vor Kurschus‘ Erklärung bereits Zeit gefunden hätten, die Berichterstattung über die Siegener Missbrauchsvorwürfe wahrzunehmen. Sie selbst habe im Anschluss der Erklärung nicht klatschen können und sei über den Applaus der anderen Teilnehmenden auch "irritiert" gewesen, so Heinrich. Sie selbst, heißt es weiter, habe durch die Berichterstattung in der "Siegener Zeitung" erneut einen Eindruck davon erhalten, wie "perfide" Täter in Missbrauchskontexten vorgehen. Sie sei von den Schilderungen "berührt", mit denen Betroffene in der Regionalzeitung zitierten werden.
Die EKD-Synode wolle, laut Aussage von Anna-Nicole Heinrich, ihre Bemühungen um eine Verbesserung der Aufarbeitung sexualisierter Gewalt weiter intensiv fortsetzen. Die gemeinsame Arbeit mit dem Beteiligungsforum (BeFO), dem die Präses selbst angehört, sei erfolgreich und werde fortgeführt.
Laut einer Stellungnahme, zeigte sich das Beteiligungsforum sehr besorgt, dass Kurschus' Darstellung in einer entscheidenden Frage von den anderen Personen abweiche. Für die BeFO sei es wichtig, dass den Aussagen von Betroffenen Glauben geschenkt würde, heißt es weiter. Die Aufklärung und Ahndung von konkreten Taten gehöre, wie es Kurschus deutlich gemacht hatte, in die Hände der Strafverfolgungsbehörden.
Darüber hinaus äußerten die Sprecher:innen der BeFO noch die Erwartung an Annette Kurschus als Ratsvorsitzende der EKD, die darüberhinausgehende Schritte ernsthaft persönlich zu prüfen. Dieser Verantwortung wird sich Kurschus nach ihrem Rücktritt dann wohl nur noch ohne das EKD-Spitzenamt persönlich stellen müssen.