Die Geschichte des Kirchbaus in Deutschland muss umgeschrieben werden. Das älteste evangelische Gotteshaus ist nicht die Schlosskirche im sächsischen Torgau, wie lange angenommen wurde. Ein paar Jahre älter ist die Kirche im Schloss Hohentübingen, wie der württembergische Ruhestandspfarrer Ulrich Zimmermann herausgefunden hat.
Zimmermann hat nachgewiesen, dass die Tübinger Schlosskirche etwa im Jahr 1535 fertiggestellt wurde - und damit neun Jahre vor der Torgauer Schlosskirche, die der Reformator Martin Luther am 5. Oktober 1544 einweihte. Damit ist der Tübinger Kirchbau der älteste protestantische im gesamten Bundesgebiet.
Zimmermann brauchte einen langen Anlauf, bis er zu seiner sensationellen Entdeckung gelangte. Zunächst hatte er sich mit kirchlichen Glas- und Wandmalereien befasst. Dadurch beschäftigte er sich zusehends mit den Kirchenbauten selbst. "Im Jahr 2018 hatte ich dann auf meinem Computer Informationen zu sämtlichen evangelischen Kirchen in Württemberg mit Daten, Bildern und historischen Erläuterungen", erinnert sich der 79-Jährige.
In Göppingen, wo er bis 2007 seine letzte Pfarrstelle hatte, wurde für 2019 das 400-Jahr-Jubiläum der Stadtkirche vorbereitet. Dabei fiel Zimmermann auf, dass es sich laut Bauplänen des legendären Architekten Heinrich Schickhardt um eine sogenannte Querkirche handelte. Die Gemeinde stand nicht, wie zuvor üblich, mit Blick auf einen am Ende des Kirchenschiffs errichteten Altar. Statt dessen war die Kanzel in der Mitte der Längswand aufgebaut, damit alle Hörer:innen dem Prediger möglichst nahe sein konnten.
Altar spielte keine Rolle mehr
Schon im späten Mittelalter hatte es sich insbesondere in württembergischen Reichsstädten eingebürgert, dass von der Mitte des Raums aus gepredigt wurde. Die besser gebildete Stadtgesellschaft wollte sich nicht damit begnügen, nur Zuschauer beim Messe-Ritus zu sein - sie wollte auch eine anständige Predigt hören. Daraus entwickelte sich der Prädikantengottesdienst, der seit der Reformation in Württemberg das Standardformat bildet und sich von der evangelischen Form der Messe unterscheidet, wie sie in den meisten anderen lutherischen Kirchen zu finden ist.
"Der Altar hat in Württemberg keine Rolle mehr gespielt", sagt Zimmermann. Manche Neubauten verzichteten ganz darauf, andere entwickelten einen sogenannten Kanzelaltar, wo also Predigtstätte und Altar verschmolzen. Nach seiner Göppinger Entdeckung suchte der Ruhestandspfarrer weitere Quer- und Predigtkirchen, denen er eine gewisse Ähnlichkeit mit dem griechischen Theater bescheinigt, weil auch dort vor der Erfindung von Verstärkeranlagen alles an einer möglichst guten Akustik lag.
Analyse von Steinen und Holz als Beweis
Die Tübinger Schlosskirche kannte er von seinem Theologiestudium. Sie ist keine Querkirche wie die in Torgau, wo die Kanzel in der Mitte steht. Laut Zimmermann handelt es sich in Tübingen um einen "Predigtsaal", der auf den üblichen erhobenen Altar und Chorraum verzichtete - weil aus reformatorischer Sicht das "Allerheiligste" nicht in Brot und Wein des Abendmahls zu finden ist, sondern im gepredigten Wort Gottes, der Bibel. Allerdings ließen sich keine Originalurkunden zu dem Tübinger Bauwerk mehr finden, die ältesten Pläne stammen von einer Renovierung im Jahr 1835.
Der Rest war Detektivarbeit. Es zeigte sich, dass der evangelisch gesinnte Herzog Ulrich 1534 nach Rückkehr aus seiner Verbannung die Kirche vollenden ließ. Die Analyse von Steinen und verarbeitetem Holz beweist, dass die Tübinger Schlosskirche in jedem Fall in den 1530er-Jahren gebaut wurde. Zimmermann hat, ohne danach gesucht zu haben, den ältesten protestantischen Kirchbau entdeckt und zu seinen Forschungen inzwischen ein Buch veröffentlicht.
Mit den Erkenntnissen des Forschers und Theologen muss übrigens auch die württembergische Architekturgeschichte aktualisiert werden. Denn bislang ging man davon aus, dass die Stuttgarter Schlosskirche der älteste protestantische Kirchbau in Württemberg sei. Tatsächlich wurde die Stuttgarter Kirche erst 1562 fertiggestellt - und damit rund 27 Jahre später als die Tübinger.