Es war ihre Mutter, die Valerie und ihrer Schwester die Diagnose übermittelte: Der Vater ist an Demenz erkrankt. Valerie reagierte psychosomatisch, übergab sich. Ihre Geschichte erzählt sie nur unter der Bedingung, dass sie ihre wahre Identität nicht preisgeben muss. "Es hieß lange, erzählt es bloß niemandem! Aber ich hätte meine Freunde früher und mehr einbinden sollen." Sie waren für Valerie die wichtigste emotionale Stütze, als ihre Verzweiflung wuchs. "Ich habe mir oft gewünscht, dass mein Vater Krebs hätte und schnell gestorben wäre."
Valerie war damals 26 Jahre alt. Ute Brüne-Cohrs erlebt in ihrer Gedächtnissprechstunde regelmäßig, wie noch wesentlich jüngere Menschen der traumatischen Demenz-Diagnose ihrer Eltern hilflos ausgeliefert sind. "Kinder sind in ihrer Peergroup oft isoliert und finden keine anderen Betroffenen, die wie sie in dieser Situation sind. So ernten sie wenig Verständnis für ihre Situation", erklärt die Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie am Universitätsklinikum Bochum in Trägerschaft des Landschaftsverbandes Westfalen-Lippe (LWL).
Es handelt sich nicht um Einzelfälle: Bundesweit gibt es nach Angaben der Krankenhausgesellschaft Nordrhein-Westfalen schätzungsweise 30.000 bis 40.000 Menschen unter 65 Jahren, die an Demenz leiden. Rund ein Drittel von ihnen hat ein Kind unter 18 Jahren.
Machen Konsequenzen häufig mit sich selbst aus
Der Nachwuchs ist einem hohen Leidensdruck ausgesetzt: Die Kinder müssen die Diagnose ihres Vaters oder ihrer Mutter nicht nur verarbeiten, sondern auch die Konsequenzen häufig komplett mit sich selbst ausmachen. Sie sind noch nicht im Erwachsenenleben angekommen und haben plötzlich selber Sorgearbeit zu leisten. Anstatt sich vom Elternhaus loslösen zu können, wächst in ihnen das Pflichtgefühl, zu helfen, wann immer nötig. Sich selbst stellen sie hintan.
Valerie fasst die Schicksalsjahre ihrer Familie so zusammen: "Sich langsam von den Eltern, die man sein Leben lang kannte, zu verabschieden, machen die meisten erst mit 40, 50 durch. Ich war erst Anfang 20 und meine Eltern standen noch mitten im Leben."
Nachwuchs wird oft vernachlässigt
Auf die Kinder der Betroffenen konzentrierten sich Alzheimer-Gesellschaften tendenziell wenig, stattdessen widme man sich eher dem gesunden Partner, kritisiert Brüne-Cohrs: Beim Nachwuchs handele sich um eine Zielgruppe, "die bislang ziemlich vernachlässigt ist und die kaum Anlaufstellen hat". Sabine Metzing, Professorin für Pflegewissenschaften an der Uni Witten/Herdecke, bestätigt: "Kinder und Jugendliche als Angehörige von Menschen mit Demenz rücken erst langsam in den wissenschaftlichen und noch langsamer in den gesellschaftlichen Fokus."
Dem schleichenden Rollenwechsel in der Eltern-Kind-Beziehung folgen Unsicherheit und Verlusterfahrung. Aus anhaltendem Stress können Depressionen entstehen und Angstzustände, die zu Selbstverletzungen, Alkohol- und Drogenabhängigkeit führen können. Für die Fachärztin Brüne-Cohrs war das Grund genug, etwas zu tun.
Mit Treffen etwas Positives entgegensetzen
2021 rief sie das Projekt "KidsDem: Unvergessen - Kinder von jungen demenzerkrankten Eltern" ins Leben. Bis 2024 finanzieren das Ministerium für Arbeit, Gesundheit und Soziales des Landes Nordrhein-Westfalen, die Landesverbände der Pflegekassen und der Verband der Privaten Krankenkassen das Pilotprojekt.
Besonders im Projektfokus stehen wöchentliche Gruppentreffen: Begleitet von drei Sozialarbeitern der Bochumer Jugendhilfeeinrichtung St. Vinzenz lernt eine Handvoll Jugendlicher und junger Erwachsener im Alter von 15 bis 20 Jahren, über eigene Gefühle und Bedürfnisse zu sprechen. "Wir wollen den altersuntypischen Aufgaben, die die Jugendlichen übernehmen, während der Treffen etwas Positives entgegensetzen", erklärt Sozialarbeiterin Anna-Magdalena Schorling.
Hinzu kommen Freizeitangebote wie Minigolf oder eine Wanderung als entspannter Ausgleich zum kräftezehrenden Alltag daheim. In diesem Sommer war sogar ein gemeinsamer Holland-Urlaub drin.
"Es hat einige Bindungsarbeit gebraucht, um Jugendliche für das Projekt zu gewinnen. Nur die Anlaufstelle an sich anzubieten, reicht nicht. Viele wollen ihre Probleme nicht vor Fremden ausbreiten. Nachher steht das Jugendamt vor der Tür, fürchten sie. Zuerst musste Vertrauen zu den Betreuern aufgebaut werden", erklärt Brüne-Cohrs.
Valerie beschäftigt noch etwas Anderes: "Es besteht das Risiko, dass ich selber erkranke. Deswegen möchte ich nichts erzählen, was zurückverfolgt werden kann. Wer weiß, welcher Arbeitgeber das sonst vielleicht mal gegen mich verwenden könnte."
Mit seinem Online-Projekt "Demenz-Buddies" will auch der Münchner Verein Desideria Care seit 2022 jungen Pflegenden ermöglichen, sich zu festen Terminen mit anderen Betroffenen zumindest per Livestream auszutauschen. Wer lieber chattet oder einfach nur telefonieren will, bekommt Informationen auf dem Portal "Pausentaste" des Bundesfamilienministeriums.
Für Ute Brüne-Cohrs ist klar: Nötig seien ausreichend Mittel für altersmäßig geeignete Selbsthilfegruppen, ein zeitnahes Angebot einer therapeutischen Begleitung sowie eine familiär abgestimmte Einbindung externer Pflegekräfte. Sonst drohe durch Demenz nicht allein dem Erkrankten Schaden, sondern auch seiner Familie.