"Seither kann man es wissen, wenn man will. Aber man will nicht. Ich komme zu Vorträgen und merke immer wieder in Kirchengemeinden, man weiß fast nichts über diese Zeit", beklagt sich der Professor für Neuere Geschichte an der TU Berlin.
Daher hat Manfred Gailus nun seine Forschungen nochmals populärwissenschaftlich zusammengefasst. Herausgekommen ist ein spannendes wie bedrückendes Buch über das protestantische Berlin im Dritten Reich. Damals lebten rund drei Millionen Evangelische in der Reichshauptstadt, organisiert in 150 Gemeinden.
Vielschichtig beschreibt Gailus, dass sich Hitler der Kirchen gar nicht bemächtigen brauchte. Den NS-Organisationen seien die Türen nur zu bereitwillig geöffnet worden. Es sei wie ein Rausch gewesen. Die "rote" Weimarer Zeit zuvor wurde von vielen Pfarrern als gottlos wahrgenommen. Es gab regelrechte Austrittswellen aus der Kirche. Die Pfarrerschaft war dagegen meist deutschnational eingestellt.
Nun mit Hitler gab es erstmals kirchliche Massentrauungen von SA-Kameraden und NS-Parteimitgliedern. Hinzu kamen Sammeltaufen von einst "gottlosen" Kindern aus den Arbeiterbezirken. Mit der NS-Machteroberung wurden die konfessionsneutralen Reformschulen zu Schulen alten Typs umgewandelt. Der Religionsunterricht wurde wieder eingeführt. Es erhob sich das euphorische Gefühl einer beginnenden Re-Christianisierung.
"Ein Volk, ein Reich, ein Führer", wurde weiter gedacht zu "eine Reichskirche". Man wollte nicht mehr Lutheraner, Reformierter, Unierter, sondern nur noch Deutscher Christ sein. "Die deutschen Christenpfarrer kamen aus kleineren sozialen Verhältnissen: Untere Beamtenschicht, Bahnbeamte, Postbeamte, Landwirtschaft, Angestellte. Die Deutsche Christen-Pfarrer waren Schmalspurtheologen. Sie hielten nicht viel von Theologie. Sie hielten viel von Bewegung und Politik. Sie nannten sich auch Glaubensbewegung Deutsche Christen. Ein erheblicher Teil war NSDAP-Mitglied. Sie wollten eine völkische Reichskirche etablieren. Das hieß eine Kirche mit Arierparagraphen", weiß Gailus.
Altarraum war mit 200 NS-Fahnen ausgeschmückt
Am 30. Januar 1933 erteilte Reichspräsident Paul von Hindenburg dem Parteiführer der NSDAP Adolf Hitler den Auftrag zur Bildung einer neuen Regierung. Schon vier Tage später fand in der zentral gelegenen Marienkirche ein Dankgottesdienst statt. Der Altarraum war mit 200 NS-Fahnen ausgeschmückt. Zu beiden Seiten der Kanzel hatten vier Standarten der SA Aufstellung genommen. Die Predigt hielt der junge Kreuzberger Pfarrer und 1. Reichsleiter der Glaubensbewegung Deutsche Christen Joachim Hossenfelder.
In Berlin blieb im Verlauf des Jahres 1933 kaum eine Kirche von solchen braun gefärbten Gottesdiensten ausgespart. Bei den Wahlen zu den Gemeindekirchenräten erzielten die Deutschen Christen in Arbeiterbezirken wie Neukölln oder Lichtenberg ihre höchsten Ergebnisse. In lediglich drei Gemeinden errangen die Deutschen Christen keine Mehrheit: in Dahlem (42,0 Prozent), in Nikolassee (46,5 Prozent) und in der kleinen Nikolai-Gemeinde (49,9 Prozent) in Berlin-Mitte.
Die "braune Synode"
Am 5. und 6. September 1933 fand die preußische Generalsynode in Berlin statt, die "braune Synode". Zahlreiche DC-Theologen wurden auf neu geschaffene Bischofsämter erhoben. Der Königsberger Marinepfarrer Ludwig Müller wurde am 27. September 1933 in Wittenberg durch Akklamation zum obersten Repräsentanten des deutschen Protestantismus gewählt, zum späteren "Reichsbischof" eben.
Rund 200 Hauptstadtpfarrer schlossen sich den Deutschen Christen an. Etwas weniger wurden dagegen Bekenntnispfarrer. In Großberlin herrschte ein Patt. Nicht aber etwa, weil die einen für und die anderen gegen Hitler waren. Es ging um die Frage des Arierparagrafen und die Bedeutung der Taufe.
"Die Bekenntnispfarrer kamen viel häufiger aus Pfarrhäusern oder aus anderen akademischen Familien. Sie lehnten eine Umprägung von Theologie und Kirche in das Völkische ab. Die Taufe war für diese Pfarrer das entscheidende Kriterium. Wer getauft ist, der ist Christ und bleibt das auch", so Gailus weiter.
1933/34 entbrannte der Kirchenkampf. Viele Gemeinden waren in der Frage gespalten. In der Schöneberger Apostel-Paulus-Kirche fand an einem Adventssonntag 1934 ein regelrechter Kampfgottesdienst statt. Auf der einen Seite der DC-Pfarrer, unterstürzt von Sprechchören und dem Organisten, auf der anderen Seite der BK-Pfarrer mit dem Posaunenchor und ebenfalls lautstarker Anhängerschaft. Ein einziges Chaos, das nach mehr als zwei Stunden Kampf mit dem Abzug der BK-Fraktion endete.
Manfred Gailus will mit seinem Buch manche Ansichten revidieren, die im Nachkriegsdeutschland nur zu gerne verbreitet wurden. Etwa, dass die Evangelische Kirche von Hitler verführt worden sei. Oder eben, dass die Bekennende Kirche eine Widerstandsbewegung war.
"Es ist ein hartnäckiges Urteil, dass sich bis heute erhalten hat. Die Bekennende Kirche war keine Widerstandsbewegung gegen das NS-Regime, sondern eine Opposition gegen die Deutschen Christen innerhalb der Kirche. Also Kirchenopposition, nicht Regime-Opposition", sagt Gailus.
Und weiter: "Die meisten Bekenntnis-Pfarrer blieben in der alten Kirche. Sie erhielten das reguläre Pfarrergehalt weiter. Die Bekennende Kirche hat sich nie losgelöst von der alten Kirche. Es gab zwar junge Leute wie Bonhoeffer, die zeitweilig raus aus der alten Kirche und eine Art Freikirche gründen wollten. Aber die BK-Pfarrerschaft war insgesamt zu konservativ. Das waren Kirchenbeamte."
Auch verlangt Manfred Gailus eine Revision des Geschichtsbildes von Bischof Otto Dibelius, der nach dem Krieg als EKD-Ratsvorsitzender lange Zeit (1949 –1961) die Geschicke der evangelischen Kirche in Deutschland bestimmte. Dibelius war zuvor Generalsuperintendent der Kurmark und damit einer der prominentesten Kirchenführer der preußischen Landeskirche. Schon früh nahm er Stellung zur so genannten "Judenfrage". Gegen eine Zurückdrängung jüdischen Einflusses im öffentlichen Leben werde, so Dibelius schon zu Beginn der NS-Herrschaft, niemand im Ernst etwas einwenden können. "Es ist jetzt explizit erwiesen, wie sehr Dibelius antijüdisch und antisemitisch gedacht und geschrieben hat", weiß Manfred Gailus heute.
Nach dem Krieg setzte Dibelius eine Reihe überzeugter NS-Pfarrer wieder in seiner Kirche ein. Eine wirkliche Entnazifizierung der evangelischen Kirche fand nie statt.
Otto Dibelius war auch entscheidender Protagonist beim "Tag von Potsdam" am 21. März 1933. Dibelius hielt seine Predigt in St. Nikolai über Röm 8,31: "Ist Gott für uns, wer mag wider uns sein?" Es war jener biblische Text, über den Hofprediger Ernst von Dryander am 4. August 1914 anlässlich der kriegsentscheidenden Reichstagssitzung gepredigt hatte. Kein Zufall also. Ein von Hitler angeführter politischer Prozessionszug des "nationalen Aufbruchs" begab sich unter Glockengeläut und bejubelt von einem dichten Spalier von Menschenmassen zur Garnisonkirche. Vor der Kirche kam es
erneut zu einem Händedruck zwischen Hindenburg und Hitler. Ein ikonographisches Bild der Verbundenheit des alten Kaiserreiches mit dem neuen Dritten Reich. Die Garnisonkirche war mit Bedacht gewählt. Bereits während der Weimarer Republik diente die preußische Traditionskirche als ein Hauptort antidemokratischer Propaganda. Hier versammelten sich die deutschnationale Volkspartei, der "Stahlhelm – Bund der Frontsoldaten", der "Reichskriegerbund Kyffhäuser", und weitere Verbände und Gruppierungen, die die Weimarer Republik bekämpften.
Um so schmerzlicher ist es für Manfred Gailus, dass die evangelische Kirche heute den Wiederaufbau dieser Kirche unterstützt. Mindestens genau so viel Engagement sollte die Kirche doch auch für die Erforschung ihrer eigenen Kirchengeschichte aufbringen.
So war die Studienrätin Elisabeth Schmitz eine der wenigen, die sich für Juden einsetzte. 200 Exemplare ihres aufrüttelnden Textes "Zur Lage der deutschen Nichtarier", eine Art Denkschrift, verteilte sie seit Frühsommer 1936 nahezu landesweit an Bekenntnistheologen und Leitungsstellen der Kirchenopposition, ohne auf größeres Gehör zu stoßen. Eine angemessene öffentliche Würdigung ihrer Widerstandsaktivität erfuhr sie zeitlebens nicht.
Erst nach den Novemberpogromen 1938 wurde das "Büro Pfarrer Grüber" gegründet. Im Laufe der Jahre 1939 und 1940 verhalf das Büro etwa 1.700 bis 2.000 evangelischen "Nichtariern" zur Auswanderung.
"Es gab aber etwa 20.000 bis 25.000 evangelische Nicht-Arier in Großberlin. Die waren genauso verfolgt wie die Glaubensjuden, die einer jüdischen Gemeinde angehörten. Ich bin öfter an die Kirche herangetreten und habe gesagt: Ihr müsst das erforschen. Ihr müsst herausfinden, wo evangelische Nicht-Arier in den Gemeinden waren und welche Schicksale sie hatten im Dritten Reich", sagt Gailus.
Und weiter: "Ich nenne das eine Bringschuld der evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg-Schlesische Oberlausitz. Es gibt hier eine Kirche, die in Potsdam den Bau der Garnisonkirche unterstützt und mehrere Millionen hineinsteckt. Wer das tut, der muss mindestens gleichzeitig Ressourcen zur Verfügung stellen, damit hier ein größeres Projekt zur Erforschung evangelische Nicht-Arier in der Hauptstadt stattfindet."
Manfred Gailus, Im Bann des Nationalsozialismus. Das protestantische Berlin im Dritten Reich, Verlag Herder, 1. Auflage 2023, 320 Seiten, ISBN: 978-3-451-39452-2, 30,00 €