Frau Schutter, wie hängen Armut und schlechte Bildung mit Erziehungsschwierigkeiten zusammen?
Sabina Schutter: In der Tat nehmen Eltern in sozialen Belastungslagen häufiger sogenannte Hilfen zur Erziehung in Anspruch. Hintergrund dürfte sein, dass bei ihnen verschiedene Risikofaktoren zusammenkommen: eine geringere formale Bildung, wenig Teilhabe am Arbeitsmarkt, bis hin zu Armut. Das heißt im Umkehrschluss natürlich nicht, dass arme oder schlechter gebildete Menschen grundsätzlich schlechtere Eltern sind. Aber Kinder aus diesen Elternhäusern sind statistisch gesehen häufiger einer Kindeswohlgefährdung ausgesetzt.
Der Zusammenhang ist mir trotzdem noch nicht so ganz klar. Nur, weil man weniger Geld oder einen niedrigeren Schulabschluss hat...
Schutter: ... sagt das erst einmal nichts aus, genau. Aber: Wenn mehrere Belastungslagen zusammenfallen, dann steigt der Druck. Also: Wer keinen Job hat, aber Geld auf der hohen Kante, der kommt mit Arbeitslosigkeit oft besser klar, als jemand, der sofort Probleme hat, seine Einkäufe zu bezahlen. Und wer eine bessere Ausbildung hat, findet in der Regel auch schneller wieder eine Stelle. Je mehr belastende Faktoren in einer Familie aufeinandertreffen, desto kürzer wird oft die Zündschnur - auch bei der Erziehung der Kinder.
Der Statistik zufolge ist die Zahl der gemeldeten Kindeswohlgefährdungen erneut gestiegen. Weshalb ist das so?
Schutter: Zum einen, und das ist gut, liegt das sicher an der verstärkten Aufmerksamkeit für das Thema und an den schärferen Gesetzen, die in den vergangenen Jahren verabschiedet wurden. Zum anderen holen sich betroffene Familien heute von sich aus früher Hilfe - weil die Belastungslagen so zugenommen haben. Zusammengefasst kann man sagen: Armut und Arbeitslosigkeit können dazu führen, dass Eltern sich einfach weniger um ihre Kinder kümmern können und somit schneller Gefährdungslagen entstehen.
In vielen Jugendhilfeeinrichtungen und Jugendämtern herrscht akuter Personalmangel. Was heißt das für betroffene Familien und vor allem deren Kinder?
Schutter: Das ist ein riesengroßes Problem. Personal im sozialen Bereich fehlt überall, das weiß man inzwischen. Aber beim erzieherischen Hilfebedarf zählt jeder Tag, jede Stunde. Es gibt Jugendämter, die ihre Falleinschätzungen - also die Gefährdungseinschätzung, das staatliche Wächteramt - an Jugendhilfeträger abgeben wollen, weil sie es selbst nicht mehr schaffen.
"Viele können sich eine Mitarbeit durchaus vorstellen - haben abervielleicht Respekt vor der Verantwortung"
Das ist nicht nur an sich problematisch, das heißt auch: Es werden vorrangig nur die ganz akuten Fälle behandelt; alle, die rechtzeitig Hilfe suchen, werden vertröstet. Das heißt also nicht nur, dass das System aktuell den Kinderschutz kaum noch gewährleisten kann, sondern auch, dass wir von Prävention oder frühzeitiger Unterstützung weit entfernt sind. Da, wo es am wichtigsten wäre - also belastete Familien so zu unterstützen, dass es nicht erst zur Kindeswohlgefährdung kommt -, scheinen die Ressourcen erschöpft.
Die Lösung wäre also auch in diesem Bereich: mehr Personal. Aber woher soll das kommen?
Schutter: Wichtig wäre, dass wir Auszubildende und Studierende ganz früh "erwischen" und für eine Tätigkeit in der Jugendhilfe begeistern können. Denn nicht alle, die Erzieherin und Erzieher lernen oder soziale Arbeit studieren, wollen nachher in Kitas oder Ganztagsschulen arbeiten. Viele können sich Jugendhilfe durchaus vorstellen, aber haben vielleicht Respekt vor der großen Verantwortung oder auch möglicher Überforderung. Hier sollten wir ansetzen.
"Viel wichtiger als die Frage der Entlohnung ist die nach der kostenlosen Ausbildung"
Wichtig wäre eine gute Begleitung der jungen Leute, die sich den Einsatz in der Jugendhilfe vorstellen können, sowie ein gesunder Mix in den Jugendhilfe-Teams aus Jung und Alt. Wir müssen sicherstellen, dass der Nachwuchs in dem Bereich angesichts der oft schweren Schicksale der betreuten Kinder nicht gleich wieder aus Überforderung aussteigt.
Ist die Entlohnung der Mitarbeitenden in der Jugendhilfe ausreichend? Ließe sich mit mehr Geld auch mehr Nachwuchs finden?
Schutter: Die Bezahlung in diesem Bereich hat sich in den vergangenen Jahren schon stark verbessert. Ich würde mal behaupten, niemand wird aus finanziellen Erwägungen Erzieherin oder Sozialpädagogin - denn reich wird man am Ende damit nicht. Natürlich ist es wichtig, der enormen Verantwortung auch einen adäquaten finanziellen Ausgleich gegenüberzustellen.
Viel wichtiger als die Frage der Entlohnung ist aber die Frage nach der kostenlosen Ausbildung. Denn nach wie vor verlangen viele, vor allem private Fachakademien, Schulgeld. Und nicht vergessen sollte man, dass es ein riesiges Geschenk ist, dass man in diesem Berufsfeld benachteiligte, belastete junge Menschen begleiten und ihnen zu einem guten Start ins Leben verhelfen darf. Der sinnstiftende Aspekt von Arbeit ist für viele Menschen aus der "Generation Z" zentral - hierauf sollte man bei der Nachwuchssuche einen viel größeren Fokus legen.