"Schon im alten Rom wurden die Juden aus ihrem Land vertrieben", sagt Jan (Schülernamen geändert) in einer Unterrichtsstunde im Fach Gesellschaftslehre an der Integrierten Gesamtschule (IGS) Hannover-Mühlenberg. Auch im Mittelalter seien die Juden verfolgt worden, bis der Antisemitismus im Nationalsozialismus einen nie dagewesenen Höhepunkt erreicht habe, referiert der 15-Jährige.
Schon seit einigen Wochen beschäftigen sich Jan und seine Mitschüler einer zehnten Klasse mit der Geschichte der Judenfeindlichkeit. Nach dem Angriff der Hamas auf Israel ist das Thema in der Schule in einem Brennpunktviertel der niedersächsischen Landeshauptstadt so aktuell wie lange nicht. Denn einzelne Schüler haben sich im Unterricht offen mit der Hamas solidarisiert. Ähnliche Vorfälle meldeten seit dem Wochenende auch mehrere Berliner Schulen.
Die IGS, mit 1.800 Schülern eine der größten Gesamtschulen in Niedersachsen, reagierte mit einer Stellungnahme - Überschrift: "Wir und der Krieg in Israel und Palästina". Darin verurteilt die Schulleitung die Anschläge und zeigt sich entsetzt über die Gewalt und traurig angesichts der Opfer auf beiden Seiten.
Klassenlehrer Jonas Wagner (35) projiziert die Stellungnahme an die Whiteboard-Tafel und erklärt, was passiert ist: "Einige Kolleginnen und Kollegen haben berichtet, dass in Klassen, in denen sie das Thema angesprochen haben, Schülerinnen und Schüler sich ganz deutlich für die Hamas ausgesprochen haben. Und dass es vollkommen in Ordnung wäre, was die dort tun." Einige Schüler äußern Unverständnis, andere wirken erschüttert.
Schule toleriert keinen Antisemitismus
Die Schule könne so etwas nicht tolerieren, stellt Wagner klar und lässt einen Ausschnitt der jüngsten Ausgabe der Talksendung "Markus Lanz" über die Tafel laufen. Darin fordert SPD-Generalsekretär Kevin Kühnert Deutschlands unbedingte Solidarität mit Israel und lehnt "Ja, aber"-Diskussionen ab. Durch die Angriffe auf den israelischen Staat sei "der einzige Schutzraum für jüdisches Leben" in Gefahr.
Unter den Jugendlichen regt sich keinerlei Widerspruch. Auf Wagners Nachfrage tragen einige vor, was sie über die Geschichte des Nahostkonflikts wissen. Nur Ben äußert sich kritisch zu einer Stelle in der Stellungnahme der Schulleitung, wonach Frieden in Israel nur "durch Gespräche zu erreichen" sei, "nicht durch Gewalt und Gegengewalt". "Warum geben wir dann der Ukraine Waffen?", fragt der 15-Jährige.
Lehrer verteidigen demokratische Prinzipien
Nach dem Unterricht räumt Wagner ein, dass sich das Kollegium mit seiner deutlichen Positionierung auf einen schmalen Grat begebe. Denn für Lehrerinnen und Lehrer gelte das sogenannte Überwältigungsverbot gemäß dem Beutelsbacher Konsens von 1976, der Grundsätze für die politische Bildung festlegt. Demnach dürfen junge Menschen niemals indoktriniert werden. Stattdessen müsse ihnen immer die Möglichkeit gegeben werden, sich eine eigene Meinung zu bilden.
"Das gilt aber nicht, wenn demokratische oder rechtsstaatliche Prinzipien gebrochen werden", sagt Wagner. Dann sollten Lehrkräfte klar Stellung beziehen. Wagner verweist auf Handlungsempfehlungen des früheren niedersächsischen Kultusministers Grant Hendrik Tonne. Der SPD-Politiker hatte Lehrerinnen und Lehrer unter Berufung auf den Beutelsbacher Konsens mehrfach dazu aufgerufen, Menschenrechte und demokratische Prinzipien zu verteidigen, etwa mit Blick auf den Ukraine-Krieg oder auch gegen "Coronaleugner".
In der zweiten Hälfte der Schulstunde arbeiten die Schüler in Gruppen an ihren Projekten. Eine Gruppe befasst sich mit dem Thema Antisemitismus in der AfD. Die AfD sei "sehr antisemitisch", sagt Lara. Es gebe zwar einige Mitschüler, die die AfD gut finden. "Aber mit denen reden wir nicht." Auch den Hamas-Sympathisanten an der eigenen Schule begegnen die Schüler dieser Klasse offenbar kaum. "Ich verbringe die Pausen immer mit den gleichen Freunden", sagt Jan.
Wagner wünscht sich von den Schülern, dass sie auch in den bevorstehenden Herbstferien die Nachrichten verfolgen und sich mit dem Krieg in Israel befassen. "Haltet euch up to date", gibt er ihnen als Hausaufgabe mit.