Ob das Thema Transgender mittlerweile in der Mitte der Gesellschaft angekommen ist, ist vermutlich Ansichtssache; filmisch zumindest ist es längst nicht mehr so aufsehenerregend wie 2015 bei der TV-Premiere von "Mein Sohn Helen".
"Einfach Nina" erzählt eine ganz ähnliche Geschichte. Allerdings ist die Hauptfigur nur halb so alt: Eines Tages eröffnet Niklas seinen verdutzten Eltern, dass er fortan Nina genannt werden möchte. Acht Jahre lang hat sie ihnen zuliebe einen Jungen gespielt, aber in Wirklichkeit sei sie ein Mädchen, deshalb will sie fortan Kleider tragen. Die Jungsklamotten sortiert sie ebenso aus wie das Fotoalbum mit den Kinderbildern: "Das war ja nicht ich."
Simone und Martin Glasewald (Friederike Becht, Ulrich Brandhoff) glauben, es handele sich um einen vorübergehenden Irrweg, für den es zudem eine plausible Erklärung gibt: Das Ehepaar hat sich vor sechs Monaten getrennt; das war vermutlich zuviel für Niklas. Simones Freundin Sandra (Anjorka Strechel) bestärkt sie in dieser Haltung: Das sei bloß eine Phase, nach einer Woche sei der Junge wieder ganz normal. Also macht die Mutter das Spiel erst mal mit und geht mit Nina sogar ein Kleid kaufen. Im Geschäft wird das Kind prompt für ein Mädchen gehalten, und Simone ahnt: Womöglich ist es mehr als nur eine Phase.
Tilmann P. Gangloff, Diplom-Journalist und regelmäßiges Mitglied der Jury für den Grimme-Preis, schreibt freiberuflich unter anderem für das Portal evangelisch.de täglich TV-Tipps und setzt sich auch für "epd medien" mit dem Fernsehen auseinander. Auszeichnung: 2023 Bert-Donnepp-Preis - Deutscher Preis für Medienpublizistik (des Vereins der Freunde des Adolf-Grimme-Preises).
Wie in "Mein Sohn Helen" ist die Metamorphose vor allem für den Vater eine Herausforderung. Streifenpolizist Martin ist kein Machotyp, verhält sich in seiner Verwirrung aber so: Als Nina ihn beim Wettkampf auf einem Hindernisparcours besiegt, will er ihr klar machen, dass nur ein Junge so viel Sportsgeist haben kann; "Nina" und "sie" kommt ihm ohnehin nicht über die Lippen.
Die Rollenverteilung mag stereotyp klingen, wirkt jedoch plausibel und ist sicher nicht unrealistisch. Beiläufige Bemerkungen deuten an, dass sich Martin zwar gegen das Weltbild wehrt, das ihm einst Vater Thilo (Michael Wittenborn) mitgegeben hat, sich aber nicht gänzlich davon befreien kann.
Überraschenderweise kommt dennoch ausgerechnet der verwitwete Großvater noch am ehesten mit der Situation klar. Er nimmt Nina, wie sie ist, und findet auch eine verblüffende Lösung für eine hygienische Herausforderung: Die Eltern verstehen nicht, warum das Kind nicht mehr duschen will; Thilo erfasst auf Anhieb, was dahinter steckt.
Bis zu diesem Punkt lässt sich "Einfach Nina" als Familienfilm betrachten. Die Geschichte ist keine Komödie, aber dank der Umsetzung durch Karin Heberlin, die das Drehbuch gemeinsam mit Angela Gilges und Christopher geschrieben hat, auch kein typisches Drama. Dann jedoch ändert sich der Tonfall. Probleme, sagt Ninas feinfühlige Lehrerin (Vanessa Rottenburg) beim Elternabend, machten nicht die Kinder, sondern die Erwachsenen, darunter ausgerechnet auch Simones Freundin Sandra: "Normal ist das jedenfalls nicht."
Als sich Nina beim gemeinsamen Gespräch der Familie mit einer Psychiaterin erkundigt, ob sich ihr Penis entfernen ließe, wird Martin klar, dass es sich nicht bloß um eine Laune handelt. Wütend wirft er Simone vor, sie habe sich ja schon immer eine Tochter gewünscht, und schlägt eine Richtung ein, die das Verhältnis des ehemaligen Paars endgültig zerrüttet. Nina, die Angst hatte, ihre Eltern würden sie nicht mehr lieb haben, wenn sie ihre wahre Identität offenbare, fühlt sich bestätigt und ringt sich zu einem Schritt der radikalen Selbstverleugnung durch.
Angesichts der Bedeutung, die die zentrale Rolle spielt, ist klar, dass Wohl und Wehe dieses Films untrennbar mit dem jungen Hauptdarsteller verknüpft sind; Arian Wegener, der trotz seiner jungen Jahre schon einige Kameraerfahrung hat, spielt das herausragend gut. Das Kindercasting war ohnehin höchst erfolgreich.
Lia Stark als Ninas Freundin Meret, die lange vor den Erwachsenen weiß, dass "Niklas" bloß Fassade ist, macht ihre Sache ebenfalls ausgezeichnet. Gleiches gilt für Ludwig Samuel Ott als genervter älterer Bruder, der irgendwann zu Vater und Opa zieht. Genauso wichtig wie die individuelle darstellerische Qualität ist in einer derartigen Konstellation die Ensembleleistung; gerade die Szenen mit Mutter und Tochter sind von einer berückenden Innigkeit.