Unter dem Motto "Denk ich an Deutschland" nach dem Gedicht "Nachtgedanken" von Heinrich Heine wurde am 3. Oktober 2023 in der Erlöserkirche in Bad Homburg über die Entstehung unserer Demokratie sowie die Zukunft eben dieser in unserem Land nachgedacht. In Hessen und Bayern stehen die Landtagswahlen am 8. Oktober unmittelbar bevor: Also der richtige Zeitpunkt, um über die Herausforderungen unserer Zeit nachzudenken, findet die Vorsitzende des Kirchenvorstandes der Erlöserkirchengemeinde.
Der Oberbürgermeister der Stadt Bad Homburg, Alexander Hetjes, ist über den Wählerwandel in unserer Gesellschaft besorgt. In seinem Grußwort spricht er über die Radikalisierung in Teilen Deutschlands und den Verlust des respektvollen Austausches. Die Bürgerinnen und Bürger würden in Krisenzeiten von der Regierung Lösungen erwarten - keine Streitgespräche. Die Parteien müssten die Bedürfnisse der Bevölkerung verstehen und diese ansprechen.
Zu Beginn ihres Festvortrags erinnert die ehemalige Ministerpräsidentin des Freistaates Thüringen, Christine Lieberknecht, an die gemeinsame Vergangenheit der DDR und der BRD. Dabei betont sie vor allem das Jahr 1848, in dem die Frankfurter Nationalversammlung - das erste gesamtdeutsche Parlament - in der Paulskirche tagte und Grundrechte für die Bürgerinnen und Bürger beschloss. Die Bürgerrechtsbewegung der DDR sah sich in der Tradition der 1848er - wichtigster Bestandteil war, laut Lieberknecht, damals die Übernahme des Grundrechtkatalogs des "Paulskirchenparlaments" in eine mögliche neue Verfassung: Demokratie, Einheit und Menschenrechte waren zentral vor allen anderen Dingen. Ziel der friedlichen Revolution in der DDR sei bis zum Fall der Mauer noch nicht die Deutsche Wiedervereinigung gewesen: "Das schien uns weit, weit weg". Es war eine Demokratisierung der DDR.
Dass die deutsche Bevölkerung vor 33 Jahren ohne Waffen, in Frieden und Freiheit wieder vereint werden konnte, das sei laut der Politikerin und Theologin Christine Lieberknecht ein großes Glück und davon sollten wir uns auch in Zukunft leiten lassen. Sie sieht der Zukunft optimistisch entgegen, auch wenn die aktuellen Umfragewerte des Allensbacher Instituts ergeben, dass die meisten das anders sehen: 2023 sind die Menschen so hoffnungslos wie seit 1950 nicht mehr: Nur 28 Prozent glauben an eine bessere Zukunft.
Hoffnung in Krisenzeiten
Lieberknecht betont, dass die Krisen der vergangenen Jahre uns ins Mark getroffen und Spuren hinterlassen haben, so sehr, dass wir heute eine Erschöpfung der Gesellschaft sehen und das Vertrauen in die Politik verloren gegangen ist. Die Menschen stünden einer extrem unvorhersehbaren und unsicheren Zukunft gegenüber. Aber was der Politikerin trotzdem Hoffnung gibt: Die Erlöserkirche ist voll. Eine ganze Kirche voller Menschen, denen Demokratie am Herzen liegt. Lieberknecht ist sich sicher, dass es Solidarität noch gibt. Dass sich Menschen immer noch füreinander einsetzen. Und genau dieses Engagement sei wichtig, denn Demokratie sei keine "Schlafwagen-Veranstaltung".
Dieser Meinung ist auch die Politikwissenschaftlerin Dr. Nicole Deitelhoff. Sie stellt fest, dass es seit 2015 einen enormen Vertrauensverlust in politische Institutionen gibt und auch der Austausch der Menschen untereinander leidet. Diskussionen außerhalb der eigenen "Blase" fänden nicht mehr statt und auch die Verrohung nehme zu. In Krisenzeiten ließe es sich schlecht streiten, denn der Anstand gehe im Ausnahmezustand verloren. Die Menschen leben in ständiger Angst um ihre Zukunft und so geht, laut Deitelhoff, die Bereitschaft nach Lösungen zu suchen und Kompromisse einzugehen verloren. Es tauche eine Sehnsucht nach den Vergangenheit auf, die in der Erinnerung glorifiziert wird.
Lieberknecht und Deitelhoff sind sich einig, dass es wieder eine demokratische Debattenkultur auf Augenhöhe brauche. Partizipation sei in einer Demokratie entscheidend, genauso wie das Gefühl gehört zu werden und aktiv mitgestalten zu können.
Christine Lieberknecht ist außerdem der Meinung, dass der christliche Glaube Konsequenzen für ein politisches Miteinander hat: "Wenn wir morgens miteinander beten, können wir tagsüber anders miteinander umgehen." Wenn Menschen sich persönlich schätzen würden, würden sie auch konstruktiv politisch streiten.
Für Nicole Deitelhoff hat die Kirche die Aufgabe sich einzumischen, ihre Meinung kundzutun und den Menschen zu zeigen, wie sie mitgestalten können. "Kirchenräume bringen Tugenden hervor" und sie lehrten Respekt und Anstand. Davon können wir in unserer Gesellschaft sicher nicht genug haben.
Die Stiftung "Kirche in der Stadt" der Erlöserkirchengemeinde Bad Homburg hat den Festakt gemeinsam mit der Stadt Bad Homburg ausgerichtet.