Babyfüße
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´Sollte man Babyklappen aufgeben, da es nun seit zehn Jahren die vertrauliche Geburt gibt? Diese Frage diskutiert unser Ethik-Experte Alexander Maßmann in seiner Kolumne "evangelisch kontrovers".
Kolumne: evangelisch kontrovers
Soll man die Babyklappen jetzt abschaffen?
Vor zehn Jahren hat der Bundestag die rechtliche Möglichkeit der vertraulichen Geburt geschaffen. Sie sollte die umstrittenen Babyklappen ersetzen, von denen es etwa 80 in Deutschland gibt. Sollen die Babyklappen also geschlossen werden, da es nun eine bessere Alternative gibt?

Vor zehn Jahren, 2013, hat der Bundestag ein Gesetz verabschiedet, das die sogenannte "vertrauliche Geburt"  ermöglicht. Das ist ein Angebot für Frauen, die ein Kind bekommen, es aber nicht behalten wollen und besonderen Schutz benötigen. Seit Inkrafttreten 2014 kann die Mutter das Kind im Krankenhaus entbinden und unmittelbar zur Adoption freigegeben. Der Name der Mutter bleibt dabei geheim, auch für das Krankenhaus und das Personal. Vor der Entbindung muss die Schwangere sich mit einer Beraterin treffen, der sie ihren Namen und die Adresse offenbart. Diese Angaben erfährt niemand, doch nach 16 Jahren kann das Kind Zugang dazu erhalten. Die neue Reglung wird gut angenommen: Bis 2019 wurden über 2000 Frauen in diesem Rahmen beraten, und über 1000 Kinder kamen vertraulich zur Welt. 

Zur Warnung: ich schreibe hier von Gewalttaten an Neugeborenen. Die vertrauliche Geburt wurde nämlich als Alternative zur Babyklappe entworfen, die ihrerseits eine Alternative zu einer Gewalttat bieten soll. Angenommen, eine Mutter hat ein Kind heimlich zur Welt gebracht. Nun soll die Babyklappe verhindern, dass sie es etwa auf der Straße aussetzt. 

An der Außenwand eines Krankenhauses oder einer Diakoniestation legt sie das Baby unerkannt in eine spezielle Klappe ein. Auf der anderen Seite liegt es dann in einem Wärmebett und wird von Krankenschwestern oder Ärzten versorgt. Seit 2000 gibt es diese Möglichkeit in Deutschland. Inzwischen gibt es 80 bis 90 Einrichtungen dieser Art. So wurde die Babyklappe über 500 Mal verwendet, doch genaue Zahlen sind unbekannt. Wenn die Mutter sich nicht nach kurzer Zeit zum Kind bekennt, wird es zur Adoption freigegeben. Ein Großteil der Babyklappen wird durch kirchliche Stellen  getragen.

Ein wesentlicher Nachteil der Babyklappe gegenüber der vertraulichen Geburt ist aber, dass das Kind den Namen der Eltern nie erfahren wird. Legal ist das nicht. Außerdem sind Eltern gesetzlich verpflichtet, die Entbindung zu melden und Unterhalt zu leisten. 

Sollen also die Behörden darauf drängen, dass die Babyklappen geschlossen werden – jetzt, da sich mit der vertraulichen Geburt eine Alternative einbürgert? Schon 2009 hat der Nationale Ethikrat in einem Gutachten argumentiert: Die Babyklappe schaffe geradezu einen Anreiz für die Mutter, sich der Verantwortung für das Kind zu entziehen. Ich meine aber, die Babyklappen sollten weiterhin betrieben werden. Das skeptische Gutachten des Ethikrates finde ich nicht überzeugend.

Die Babyklappe in der Kritik

Während Kritiker:innen sagen, die Babyklappe mache die Trennung vom Kind zu einfach, meinen Befürworter, dass sich keine Mutter leichtfertig von ihrem Kind trennt. Babyklappen sollen Kindern zugutekommen, die ansonsten von der Mutter riskant ausgesetzt würden und womöglich erfrieren. In einem Jahr bringen außerdem 20 bis 40 Mütter in Deutschland ihr Neugeborenes um. Das sind die Gründe, weshalb die Behörden die Babyklappen dulden.

Doch Findelkinder, die von ihren Eltern abgegeben wurden, tragen oft eine besondere psychologische Bürde. Sie haben ein Gefühl der Entwurzelung, weil sie ihre biologischen Eltern nicht kennen. Sie ringen damit, dass die Eltern dem Kind nicht die Treue gehalten, sondern es abgelehnt haben. Der Ethikrat argumentierte 2009, dass die Babyklappe dem Vorschub leiste.

Die Panik-These

Ein weiteres Argument des Ethikrates gegen die Babyklappe lautet, dass dieses Angebot auf der psychologischen Ebene diejenigen Mütter nicht erreicht, deren Babys die Babyklappe retten soll. Manche Frauen verdrängen nämlich ihre Schwangerschaft, teils bewusst, teils unbewusst. Manchmal gibt eine Frau an, es sei ihr wie Schuppen von den Augen gefallen, als die Fruchtblase platzte. Bei der Entbindung bricht dann Panik aus. Die Frauen entscheiden dann anscheinend nicht rational, sondern handeln im Affekt. Laut dem Ethikrat gelte das für Frauen, die das Neugeborene direkt töten und auch für solche, die es "durch Aussetzung zu Tode gebracht haben".

Doch gilt das so allgemein für Mütter, die ihr Neugeborenes direkt töten? Und gilt das auch für Mütter, die das Baby aussetzen? Beides suggeriert der Ethikrat. Sollte das stimmen, dann könnte man nicht mehr zugunsten der Babyklappe vorbringen: Das eine gerettete Kind wiegt den Schaden auf, der entsteht, wenn andere Kinder abgegeben werden, die die Mütter behalten würden, falls es die Babyklappe nicht gäbe. Hält die Babyklappe möglicherweise überhaupt keine Mutter davon ab, ein Baby auszusetzen oder zu töten? Diese Ansicht bringt auch die Organisation terre des hommes gegen die Babyklappe vor.

Umfrage

Sollen die Babyklappen geschlossen werden, weil sich eine bessere Alternative eingebürgert hat?

Auswahlmöglichkeiten

Für diese Ansicht beruft sich der Ethikrat auf eine Präsentation von Anke Rohde, ehemalige Professorin für Gynäkologische Psychosomatik. Teils weist Rohdes Präsentation in diese Richtung: Manche Frauen sind nach einer heimlichen Entbindung von Panik ergriffen. Sie können die Babyklappe praktisch gar nicht nutzen, sondern töten das Baby sofort, im Affekt. 

Angenommen, die Panikreaktion ist nicht bloß eine Schutzbehauptung mancher Mütter: Es fragt sich dann freilich auch, welchen Nutzen wiederum eine anonyme oder vertrauliche Geburt im Krankenhaus haben soll. Sie verlangt Planung und Vorlauf. Dann müsste der Ethikrat seine Kritik an der Babyklappe auch auf die vertrauliche Geburt ausdehnen.

Unstimmigkeiten

Die Reaktion im Affekt kann jedoch nicht so bedeutend sein wie angegeben, weil die Tötung eines Neugeborenen sehr viel seltener ist als die Verdrängung einer Schwangerschaft. Der Ethikrat sucht diesen Widerspruch mit einer Aussage Rohdes zu überwinden, dass es aufgrund irgendeines Zufalls oft nicht zu einer Tötung komme. Die Babyklappe gehöre nicht zu diesen Zufällen. Diese Ansichten sind aber nicht haltbar. Laut Rohde hat bei etwa 475 Geburten pro Jahr eine Mutter ihre Schwangerschaft verdrängt. Zu einer einzelnen Tötung eines Neugeborenen kommt es aber in Deutschland bei einer von 17.000 bis 39.000 Geburten (20 bis 40 Infantizide bei 680–780.000 Geburten pro Jahr). Demnach würde eine einzelne Kindstötung daraus resultieren, dass zwischen 36 und 82 Mütter ihre Schwangerschaften verdrängen und in Panik geraten. Ein kausaler Zusammenhang zwischen Schwangerschaftsverdrängung und Kindstötung via Panikreaktion sieht anders aus. Ein anderer wichtiger Faktor muss zur Kindstötung beitragen.

Außerdem spricht Rohde, wenn es um die Panikreaktion bei der Entbindung geht – im Unterschied zum Ethikrat – nur von Frauen, die ihr Neugeborenes getötet haben, nicht von denen, die es ausgesetzt haben. Das ist schlüssig: Frauen, die ihr Kind auf der Straße aussetzen, bleiben unbekannt. Im Unterschied zu Frauen, die wegen Infantizid (Neugeborenentötung) verurteilt werden, können wir sie nicht befragen. Auch schränkt Rohde ausdrücklich ein, was sie über den Infantizid sagt: "Wir wissen nur wenig u?ber die zugrundeliegende Perso?nlichkeitsproblematik, da praktisch nur begutachtete (relativ wenige) Fa?lle diesbezu?glich ausgewertet werden ko?nnen." Nicht alle Kindstötungen werden bekannt; nicht alle Täterinnen werden gefasst; und nur ein kleiner Teil der gefassten Täterinnen werden von Forscherinnen wie Rohde interviewt. Doch selbst unter den befragten Frauen ist die Panikreaktion nicht typisch. Zwischen den 17 interviewten Müttern bestehen laut Rohde zu große Unterschiede: Man trifft auf ein Verhaltensspektrum von Panik bis hin zu bewusster Entscheidung über das Vorgehen. Weshalb der Ethikrat die Panik-These so sehr hervorhebt, ist unverständlich. 

Partnerschaftskonflikte

Der Ethikrat spricht auch Partnerschaftskonflikte an und knüpft hier an Erfahrungswissen an: Beim Konflikt ums Kind spielt der Partner eine wichtige Rolle. Der Rat erwägt, dass der Mann die Babyklappe gegen den Willen der Mutter durchsetzt. Er möchte das Baby anscheinend loswerden. Doch weshalb entbindet hier die Mutter einerseits heimlich, andererseits aber – trotz des bedrohlichen Partners – ohne Panikreaktion? Es bleibt unklar, wie sich hier der Partnerschaftskonflikt zur Panik-These verhält. Die Mutter erscheint entweder panisch (hysterisch?) oder passiv. Ich frage mich, ob diese Position des Ethikrats damit zusammenhängt, dass nur 8 von 26 Mitgliedern Frauen waren.

Möglich, dass das Paar erwägt, das Baby zu behalten, sich aber für die Babyklappe entscheidet. Doch ernstzunehmen ist auch die Möglichkeit, dass die Frau sich gegen die Neigung des Mannes für die Babyklappe entscheidet – und zwar in einer Situation, in der der Mann das Baby loswerden will. Der Rat erwägt aber nicht, dass der Druck des Mannes in einigen Fällen den Ausschlag dafür gibt, dass Frauen ein Baby aussetzen oder töten. Wenn man schon den Partnerschaftskonflikt erwägt, dann muss man die Variante ernstnehmen, dass die Babyklappe der Frau eine Möglichkeit bietet, im Konflikt die Sicherheit des Babys zu gewährleisten. 

Statistik

Oft ist zu lesen, die Babyklappe rette keine Babys, weil die Zahl der getöteten Neugeborenen gleich bleibe. Für diese Aussage gibt es aber keine Belege. Es gibt keine polizeiliche Infantizid-Statistik in Deutschland. Womöglich stammt die Zahl aus der Auswertung von Medienberichten. Doch Neugeborene werden im Verhältnis selten getötet, so dass zufällige Ereignisse die Statistik verzerren dürften, und ist es nicht möglich, von den Zahlen auf die Wirkung der Babyklappe zu schließen. 

Außerdem ist unklar, was für ein Muster eine Infantizid-Statistik aufweisen würde, unterstellt man einmal, die Babyklappe verhindert tatsächlich die Tötung. Angenommen, dass einzelne, teils krisenhafte Ereignisse wie die Weltfinanzkrise (2007 bis 2008), die Ankunft von über zwei Millionen Flüchtlingen in Deutschland (2015) oder die Covid-Pandemie episodisch zu Tötungen von Neugeborenen in der deutschen Wohnbevölkerung führen. Wenn die Babyklappe dagegen "funktioniert" und Tötungen verhindert, muss das kein kontinuierliches Sinken der Tötungszahlen bedeuten.

Zuletzt wird aus der Schweiz verschiedentlich berichtet, die Zahl der ausgesetzten Babys sei über die Jahre kontinuierlich gesunken und bei null angelangt, während entsprechend die Zahl der Babys, die in der Babyklappe (dem helvetischen "Babyfenster") abgegeben wurden, gestiegen ist. All das sind keine Beweise. Doch sollte man es sich nicht zu leicht machen mit der Behauptung, die Babyklappe rette kein Leben. 

Ausblick

In Deutschland nehmen betroffene Frauen heute die vertrauliche Geburt gut an. Das ist eine positive Nachricht. Dennoch hoffe ich, dass Krankenhäuser, kirchliche Initiativen und andere karitative Einrichtungen weiterhin auch die Babyklappen betreiben können, auch zehn Jahre nach Einführung der vertraulichen Geburt. Für manche Schwangere in einer Notlage verlangt selbst das Gespräch mit einer Beraterin vor einer vertraulichen Geburt zu großen Vorlauf oder zu viel bewusste Planung. Manche verdrängen die Schwangerschaft, bis die Fruchtblase platzt. Wenn man sich fragt, wer unter diesen Umständen die Babyklappe in Anspruch nimmt, sind außerdem neben Einheimischen auch Zuwanderer oder Geflüchtete zu bedenken. Sie wissen vielleicht nicht von der Möglichkeit der vertraulichen Geburt, und vielleicht würde die Familie nicht dulden, dass die Frau (heimlich zu diesem Zweck) allein ins Krankenhaus geht. 

Die Überlegung, dass manche Frauen die Babyklappe als Alternative zur Kindesaussetzung oder Kindstötung empfinden, ist durchaus plausibel. Verwendet die Frau die Babyklappe, könnte das Kind außerdem später Trost darin finden, dass die Mutter das Kind immerhin gezielt in gute Hände gegeben hat. Wenn die Mutter außerdem etwa in der Schweiz eine Babyklappe verwendet, wird sie ermutigt, dem Kind eine Nachricht zu schreiben. Auch das kann helfen, die psychologische Bürde des Findelkindes zu erleichtern.