Junge spielt Gewaltspiel-Ego-Shooter 2012 auf der CeBIT
epd-bild / Friedrich Stark
Auch jenseits der Kirchen fragen sich viele Menschen, ob Ego-Shooter-Computerspiele einer gewaltfreien Erziehung im Wege stehen. Was ist von "Ballerspielen" zu halten, fragt Kolumnist Alexander Maßmann in seiner "evangelisch.de kontrovers" Kolumne.
Kolumne: evangelisch kontrovers
Darf man Ballerspiele spielen?
Millionen Deutsche spielen Shooter-Spiele auf dem Computer. Unser Ethik-Experte Alexander Maßmann fragt, ob das eine Verherrlichung der Gewalt ist, die abzulehnen sei.

Laut verschiedenen Umfragen aus den letzten zwölf Jahren spielt in Deutschland über ein Viertel der Bevölkerung regelmäßig Computerspiele, und zumindest gelegentlich tun das 34 Millionen Menschen. Seit der Corona-Pandemie sind es noch mehr. Darunter sind acht Millionen oder mehr, die Action- und Shooter-Spiele spielen. Hier fallen besonders die "Ego-Shooter" auf. Die anspruchsvolle technische Fachbezeichnung lautet "Ballerspiele". Der Bildschirm zeigt die eigenen Hände wie in der Perspektive des Ich, darin ein Maschinengewehr, und man läuft durch ein perspektivisch realistisches Szenario, zum Beispiel ein Sicherheitsgefängnis. Ziel des Spiels ist das Abschießen der Gegner. 

Meine Frau und ich hatten unserem Sohn vor einiger Zeit "Fortnite" verboten, eines der kommerziell erfolgreichsten Ballerspiele. Es richtet sich an ein Publikum ab etwa zehn Jahren, doch es hat auch deutlich cartoonhafte Züge. Ernsthafter und anscheinend realistischer geht es bei "Counterstrike", "Doom" und "Call of Duty" zu, die für ein höheres Alter freigegeben sind. Die detailgetreue Darstellung der Waffen steigert den realistischen Effekt, ebenso wie ausgeklügelte Sounds. 

Auf Außenstehende wirken die Spiele äußerst gewalttätig, ja gewaltverherrlichend. Manche Spiele mit ihrem unnachgiebigen Fokus auf dem Abschießen könnte man vielleicht als Gewaltpornos bezeichnen, nur ohne Sex. So gab es auch in Deutschland eine lange Debatte darüber, ob "Killerspiele" nicht gesetzlich verboten werden sollen. Schwappt die digitale Darstellung der Gewalt gar über, führt sie zu Amokläufen im wirklichen Leben?

Andererseits sind die Opfer im digitalen Spiel manchmal Monster, die einfach zu grotesk aussehen. Oft ist das Equipment - von der riesenhaften Kanone bis hin zum Kampfhubschrauber - hoffnungslos überdimensioniert. Zu drastisch ist die Übertreibung, wenn andauernd neue Gegner anstürmen, aber im Nu erledigt sind. Das ist Splatter. Würde man als Hersteller dagegen Realistik anstreben, dann würde gelten: Weniger ist mehr. Tun wir den Ballerspielen zu große Ehre an, wenn wir uns moralisch über sie aufregen? Sind diese Spiele vielleicht doch harmlos: vielleicht ein belangloser Zeitvertreib?

Christinnen und Christen sind der Gewaltfreiheit verpflichtet. Aber auch jenseits der Kirchen fragen sich verantwortungsbewusste, sensible Menschen, ob diese Spiele zum Beispiel einer gewaltfreien Erziehung im Wege stehen. Also: Was ist von den Ballerspielen zu halten?

Ballerspiele und physische Gewalt

Der Amoklauf an der Columbine High School 1999 in den USA ließ Beobachter:innen weltweit aufhorchen. Ein halbes Jahr später schießt ein Jugendlicher in Bad Reichenhall wahllos um sich, tötet vier Menschen und zuletzt sich selbst. Gerade in Deutschland entsteht ein Muster mit Erfurt (2002), Emsdetten (2006), Winnenden (2009) und München (2016). Auch danach sind noch Gewalttaten dieser Art zu verzeichnen, doch diese fünf Vorfälle führen zu der Debatte, ob Gewaltspiele am Computer wesentlich zu solchen Morden beitragen. Der bayerische Innenminister Günther Beckstein popularisiert den Begriff der "Killerspiele" und setzt sich für ein Verbot ein, wie auch sein Nachfolger Joachim Herrmann. Es kommt nicht dazu, und die Debatte ebbt schließlich ab.

Eine psychologische Story

Ein Verbot ist ein gravierender Eingriff in die Meinungsfreiheit und bedarf in einer freiheitlichen Demokratie starker Gründe. Die Verbindung zwischen Ballerspielen und Amoklauf leuchtet anscheinend dem Common Sense ein, zumindest unter denen, die selbst nicht den Ego-Shootern frönen. Aus der Psychologie kennen wir den sogenannten Anbahnungseffekt, das Priming. Ihn illustriert etwa das bei Kindern beliebte Fragenexperiment: "Welche Farbe hat Schnee? Welche Farbe haben Wolken? Was trinkt die Kuh?" Die geballte Konfrontation mit einem bestimmten Signal (weiß) schränkt in der reflexhaften Reaktion die Wahlfreiheit ein (Milch statt Wasser). Die Spiele lenken also die Aufmerksamkeit einseitig auf die Gewalt, als trieben sie einen in eine Sackgasse, in der die Gewalt alternativlos erscheint. Der Neurowissenschaftler Manfred Spitzer  warnt: "Videospiele trainieren aktiv durch viele Wiederholungen via Identifikation mit einem Aggressor ganze Handlungssequenzen ohne Pause und mit Belohnung von Aggression und Gewalt." Richten sich junge Menschen mit Killerspielen geradezu selbst zur Gewalt ab?

Fehlanzeige

Das klingt nach einer plausiblen Story. Doch wesentlich ist zuerst, dass ein kausaler Zusammenhang vom Ballerspiel zur körperlichen Gewalt nie nachgewiesen wurde. Außerdem wirkt das Priming gerade dann, wenn man relativ spontan handelt, ohne inneren Abstand zu dem bestimmenden Reiz. Amokläufer handeln aber sehr oft nicht spontan, sondern planen ihre Tat längerfristig. Außerdem hatten längst nicht alle Amokläufer in Deutschland ein besonderes Interesse an gewalttätigen Spielen. Bei den vielen Spielern hierzulande müsste es ja auch zu viel mehr Gewalttaten kommen. 

Umfrage

Kann man eigentlich guten Gewissens die neueren Ego-Shooter am Computer spielen?

Auswahlmöglichkeiten

Hilfreich ist auch der internationale Vergleich. In den USA hat unter den Amokläufern nur eine Minderheit ein besonderes Interesse an Ballerspielen. Dort diskutiert man seit Trump erneut die Videospiel-Theorie, um von den Problemen des Rassismus und der mangelnden Regulierung der Schusswaffen abzulenken. In Großbritannien dagegen ist die Ballerspiel-Diskussion kaum bekannt. In der Reaktion auf Amokläufe verschärfte man dort das Waffenrecht, und seit einem Vierteljahrhundert sind Amokläufe mit Schusswaffe Geschichte.

Reingefallen

Viele Gegner der Ballerspiele sind der Spieleindustrie auf dem Leim gegangen. Die preist ihre Spiele ja als besonders realitätsnah an. Prompt wirft man den Spielen vor, dass man die Gewalt hier zu realistisch erfahre. Das beschränkt sich aber auf bestimmte Abbildungen und Sounds. Alles andere als realistisch sind aber zum Beispiel die lächerlich gute Treffsicherheit beim Schießen am Bildschirm und die Mühelosigkeit des Rennens und Kämpfens. Für die Kritiker spielt sich das Leben körperlos im Kopf ab, und sie unterstellen, dass für die Erfahrung der Realität bloße Bilder ausreichten. Doch es ist ein beträchtlicher Unterschied, ob ich im Spiel "Super Mario Kart" ein Auto steure oder auf einer echten Straße. Auch Auto-Simulatoren führen nicht zu cartoonhaft rüpelhaftem Fahren auf der Autobahn! 

Ballerspiele und die Moral

Ein gesetzliches Verbot von Ballerspielen lässt sich nicht rechtfertigen. Doch wie steht es mit der Moral? Auch wenn Ballerspiele nicht körperliche Gewalt bewirken, könnten sie unmoralisch sein, weil sie anscheinend Gewalt verherrlichen. Außerdem verbinden wir sie oft mit dem Schreckgespenst der Wohlstandsverwahrlosung: Vereinsamen junge Menschen nicht, wenn sie ihre Zeit mit solch krudem Zeug vergeuden?

Wenn ich manche gegenwärtigen Ballerspiele in der Berichterstattung sehe, wirken sie auf mich persönlich abstoßend. Aber bei einen Dokumentarfilm  zum Thema habe ich mich ertappt gefühlt: Als Jugendlicher habe ich selbst die Spiele gespielt, vor denen die Beobachter damals gewarnt haben! Geradezu niedlich wirkt heutzutage RiverRaid, das Spiel, das als erstes in Deutschland indiziert wurde (1984). In der planen 2-D-Übersicht von oben steuert man ein Flugzeug und schießt gegnerische Flieger ab. Melodramatisch warnte die Bundesprüfstelle, es finde "im Kindesalter eine paramilitärische Ausbildung" statt. Auch die ersten 3-D-Ego-Shooter empfinde ich heute als absurd oder lächerlich: überkandidelte Monster, die auf groteske Weise erlegt werden. Also: In der Reaktion auf die "heißen" Spiele von heute lieber nicht übertreiben. Möglicherweise werden sie uns in ein paar Jahren nur ein müdes Lächeln abringen …

Wohlstandsverwahrlosung?

Das Stereotyp der Vereinsamung beim Computerspielen stammt aus den 1980ern. Doch schon dort versammelte sich oft der Freundeskreis gemeinsam um die Spielekonsole. Dann kam die Phase der LAN-Parties, in der Jugendliche ihre Computer zu den Freunden brachten und gemeinsam zockten. Auch heutzutage werden viele Ballerspiele gemeinsam gespielt, entweder als Wettkampf oder im Kooperationsmodus. Man muss sie nicht mögen, aber dass sie zur Vereinsamung beitragen, kann man den Ballerspielen nicht allgemein vorwerfen.

Außerdem gibt es manche Spiele, die mehr oder weniger Gewalt beinhalten, aber auch einen pädagogischen Nutzen im traditionellen Sinn haben. In "Change" simuliert man die Wirklichkeit aus der Sicht eines Obdachlosen. In "Miami III" schlüpft man in die Rolle eines Veteranen mit schwarzer Hautfarbe, der immer wieder der Gegenstand rassistischer Bemerkungen ist. 

Gegenüber einem bestimmten Spiel, dessen Rahmenhandlung eine Massenexekution aus dem Zweiten Weltkrieg umfasst, habe ich auch auf ethischer Ebene Vorbehalte. Doch nicht alle Ballerspiele sind gleich. Teilweise lässt sich zugunsten anderer Ballerspiele auch einwenden: So erwirbt sich eine neue Generation eine neue Art der Medienkompetenz. Und schließlich ist der Konflikt, laut dem die jüngere Generation zu viel Zeit mit den falschen Dingen vergeudet, ein uraltes Muster.

Ausblick

Darf man Ballerspiele spielen? In der Ethik geht es eigentlich nicht ums Erlauben oder Verbieten, sondern um eine Anleitung zum eigenständigen Urteilen. Es kann der moralische Ernst – auch der christliche Ernst! – schnell zum bloßen Kulturpessimismus werden, wie etwa bei Manfred Spitzer, der nicht nur Ballerspiele, sondern das Fernsehen, Computer samt Powerpoint-Präsentationen und Internet wie auch Smartphones verurteilt. Auch frage ich mich, ob die Fundamentalkritiker der Spiele – etwa im bayerischen Innenministerium – nicht wahrhaben wollen, dass eine neue Generation anders denkt und empfindet als sie.

Für eine pauschale Verurteilung der Ballerspiele sehe ich jedenfalls keinen Grund. Ich gebe zu: Sehe ich die gewalttätigen Szenen der heutigen Ballerspiele, kann ich sie nicht als spannend und ansprechend empfinden. Die Rahmenhandlung ist manchmal haarsträubend. Bestimmte einzelne Titel sind vermutlich nicht gutzuheißen, sollten etwa historische Verbrechen der deutschen Wehrmacht bloß wie eine Episode unter vielen erscheinen. Doch zu der bekannten moralischen Entrüstung über "die Ballerspiele" im allgemeinen kann ich mich nicht durchringen. Dass sie zu realistisch seien, verstehe ich nicht.

Tendenziell bin ich also der Meinung: Ballerspiele sind eine Frage des Geschmacks, nicht der Moral. Ich hoffe zwar, dass mein Sohn nicht plötzlich eine Begeisterung für "Call of Duty" entdeckt, doch jede neue Generation findet ihre eigenen Wege, Medienkompetenzen zu entwickeln. Auch ich habe das auf Weisen getan, die der Bundesprüfstelle damals überhaupt nicht gefallen haben, die aber heute nicht mehr als bedenklich gelten. Dass Kritiker außerdem vor der realen körperlichen Gewalt warnen, ist löblich. Hier sollten wir aber nicht auf Computerspiele schauen, sondern uns lieber fragen, ob die deutsche Waffengesetzgebung ausreichend streng ist.