Die Geschichte der Nibelungen ist die wohl älteste und sicherlich bekannteste deutsche Sage; Richard Wagner hat auf Basis des Heldenepos’ seinen insgesamt 15 Stunden langen Opernzyklus "Der Ring des Nibelungen" komponiert. Der Stoff ist vielfach adaptiert worden, gern auch in Popcornversion; RTL hat vor 15 Jahren den Archäologen Eik Meiers auf die "Jagd nach dem Schatz der Nibelungen" geschickt. Fred Breinersdorfer und Katja Röder erzählen das Nibelungenlied nun in gänzlich anderer und sehr origineller Form. Das Drehbuch besteht wie Wagners Tetralogie aus vier Kapiteln: "Rheingold", "Die Walküre", "Siegfried", "Götterdämmerung". Gesungen wird auch, aber nur nebenbei. Krimifans brauchen ohnehin keine filmische Entführung nach Bayreuth befürchten: "Gold" ist dank der sehenswerten Inszenierung durch Esther Wenger ein zwar ungewöhnlicher, vor allem jedoch ein ungewöhnlich guter "Tatort".
Aus dem Rahmen fällt der Film zudem durch einige originelle Ideen; so führt zum Beispiel Heino Ferch als Erzähler und eigenwilliger Kurator des Wormser Nibelungen-Museums durch die Handlung. Albrecht Dürr kann sehr unleidlich werden, wenn ihm Schatzsucher in die Quere kommen: Sollte der legendäre Nibelungenhort je gefunden werden, gehört er selbstverständlich in seine Ausstellung; auch der Doktor zählt daher zum Kreis der Mordverdächtigen. Zunächst gibt es jedoch gar keine Leiche, sondern nur einen Vermissten: Boris Wolter, ein von alten Sagen begeisterter Bankfilialleiter, ist von einem Ausflug nach Deidesheim an der Weinstraße nicht zurückgekehrt. Nun macht sich seine Mutter Sorgen, zumal Boris Epileptiker ist. Fundstücke in seinem Auto legen den Schluss nahe, er könne tatsächlich den Schatz der Nibelungen entdeckt haben. Kurz drauf wird ein polizeibekannter Hehler erschossen; aber Wolter bleibt verschwunden.
Der vielfach ausgezeichnete Grimme-Preisträger Breinersdorfer und Ehefrau Röder ergänzen die Handlung zwar auch um typische Krimiumwege, etwa in Gestalt einer völlig abgestürzten Ex-Frau (Pheline Roggan), aber der Knüller ihrer Geschichte ist natürlich das Spiel mit den Sagenelementen und dem Zauber des Edelmetalls: "Am Golde hängt, zum Golde drängt doch alles". Selbst Kommissarin Stern (Lisa Bitter) ist nicht gefeit, wie der Goldstaub verdeutlicht, der sie umflirrt. Die Kunst des Drehbuchs besteht in der gelungenen Gratwanderung: Wer Wagner kennt, wird die diversen Andeutungen mit Freude zur Kenntnis nehmen, aber alle anderen müssen sich nicht ausgeschlossen fühlen; die Handlung funktioniert auch gänzlich ohne Hintergrundwissen, zumal Breinersdorfer und Röder geschickt kleine Wissensbissen in die Dialoge integriert haben.
Tilmann P. Gangloff, Diplom-Journalist und regelmäßiges Mitglied der Jury für den Grimme-Preis, schreibt freiberuflich unter anderem für das Portal evangelisch.de täglich TV-Tipps und setzt sich auch für "epd medien" mit dem Fernsehen auseinander. Auszeichnung: 2023 Bert-Donnepp-Preis - Deutscher Preis für Medienpublizistik (des Vereins der Freunde des Adolf-Grimme-Preises).
Gleich zu Beginn berichtet Dürr von dem Fluch, der auf dem Schatz liegt. Ferch verkörpert den Kurator als Conferencier zudem mit einem Augenzwinkern; einmal lächelt er gar verschwörerisch in die Kamera. Die Rolle hat ihm sicher großen Spaß gemacht. Dass er sie übernommen hat, könnte mit einer langjährigen Zusammenarbeit zu tun haben: Breinersdorfer und Röder schreiben auch die Drehbücher für die 2017 mit "Ein Kind wird gesucht" gestarteten Ingo-Thiel-Krimis im ZDF.
Wie gut Oper und Krimi zusammenpassen, verdeutlicht nicht zuletzt die preiswürdige Musik von Robert Schulte-Hemming und Jens Langbein: Sie enthält zwar Anklänge an den Zyklus, ist aber ein eigenständiges Werk. Trotzdem ist Wagner präsent: Mal singt der Besitzer (André Eisermann) des Hotels, in dem Wolter abgestiegen ist, eine Arie aus der "Walküre" zum Fenster hinaus, ein anderes Mal erklingt der Walkürenritt in Heavy-Metal-Version. Dazu passt das ebenfalls sehr besondere Szenenbild, das gerade in den Szenen im Nibelungen-Museum eher einem Bühnenbild gleicht. Das Museum gibt es wirklich, dort ist auch gedreht worden, aber beim Inventar hat Angelika Dufft im Sinne der Geschichte etwas nachgeholfen.
Abgerundet wird "Gold" durch die Umsetzung. Wenger hat bereits den ähnlich vorzüglichen vorletzten Krimi aus Ludwigshafen gedreht ("Das Verhör", 2022). Die Bildgestaltung (diesmal Michael Merkel) ist genauso sehenswert. Schon der Auftakt mit dem Wormser Denkmal des Verräters Hagen von Tronje vor (allerdings digitalen) düsteren Wolken im Abendrot ist ein kleines Kunstwerk. In der Geschichte kommt ebenfalls ein Hagen vor, dessen Rolle zunächst jedoch unklar bleibt. Es ist Breinersdorfer und Röder ohnehin gelungen, den Zusammenhang zwischen den verschiedenen Handlungsfäden lange offen zu lassen.
Endgültig zu einem mehr als guten Krimivergnügen wird der 78. Odenthal-"Tatort" durch auch optisch eindrucksvolle Einfälle wie das unerwartete Erscheinen eines Drachenwandgemäldes in einem Schwimmbad, dessen Wasser sich daraufhin blutrot färbt; kurz zuvor hat die Kommissarin auf dem Grund des Beckens einen Ring gefunden, allerdings aus Gummi. Einziges kleines, aber verschmerzbares Manko: Odenthal (Ulrike Folkerts) muss ihrer Kollegin zu oft das Offensichtliche erklären.