epd: Herr Klundt, das Bürgergeld setzt als Bedarf für Schulmaterial einen Betrag von 174 Euro an. Reicht das aus?
Michael Klundt: Die ersten Investitionen für die Einschulung umfassen Schulranzen, Brotdose, Trinkflasche, Sporttasche, Mäppchen, Stifte, Tuschkasten und Pinsel und so weiter. Da kommt man recht schnell auf mehrere hundert Euro. Durchschnittlich. Die Schultüte habe ich da noch gar nicht erwähnt. Manche machen sich darüber lustig und sagen, früher habe auch nicht jeder so einen tollen Ranzen gehabt. Aber so ist das eben in einer Gesellschaft: Wenn es selbstverständlich ist, dass alle so einen Ranzen haben, dann bedeutet es eine enorme Ausgrenzung vom ersten Schultag an, wenn wir bestimmten Schulkindern so etwas nicht zur Verfügung stellen.
Hat der Paritätische Gesamtverband also recht, wenn er fordert, den Bedarf von 174 auf 200 Euro zu erhöhen?
Klundt: Wenn jetzt wenigstens die enormen Preissteigerungen des vergangenen Jahres abgebildet werden könnten, wäre das schon mal ein erster Schritt. Es gehört einfach dazu bei einem Kind, dass bei dessen Einschulung gewisse Sonderleistungen nötig sind. Dutzende Studien in den vergangenen Jahren haben nachgewiesen, dass die Sozialleistungen nicht bedarfsorientiert bemessen sind. Nicht nur beim Schulmaterial. Von dem, was da vorgesehen ist, können Kinder sich nicht adäquat ernähren, nicht adäquat kleiden, und sie können sich nicht adäquat Bildung aneignen, weil der Bedarf vielfach schlicht ins Blaue hinein geschätzt wurde.
Andererseits könnte man argumentieren, dass der Sonderbedarf für die Einschulung eine weitere Verkomplizierung des Förderdschungels ist. Viele Eltern wissen doch schon heute nicht, welche Leistungen sie eigentlich abrufen können, und tun es dann auch nicht. Wäre eine Kindergrundsicherung hier die bessere Lösung - oder wäre sie nachteilig, weil Sonderbedarfe dann keine Berücksichtigung mehr fänden?
Klundt: Eine Pauschalleistung steht Sonderleistungen nicht entgegen. Auch bei einer Kindergrundsicherung brauchen wir Posten für Sonderausgaben. Es gibt ja beispielsweise auch besondere Bedarfe aus gesundheitlichen Gründen oder wegen einer Behinderung. Aber ich würde noch einen Schritt zurückgehen. Der Schulbesuch muss aus meiner Sicht für Eltern wirklich kostenfrei sein. Das beträfe nicht nur die Schulausstattung, sondern auch das Mensaessen, Klassenfahrten, Umlagen für Kopierpapier oder Bastelmaterial - auch Laptops, wenn nötig. Das alles gehört zur Lernmittelfreiheit, und das sollte für alle ohne Antragstellung möglich sein. Das "für alle" ist mir hier wichtig, nicht nur für arme Kinder. Denn diese ganzen Anträge und Bedürftigkeitsnachweise sind ja auch ein Stigmatisierungstreiber.
"Das "für alle" ist mir hier wichtig, nicht nur für arme Kinder. Denn diese ganzen Anträge und Bedürftigkeitsnachweise sind ja auch ein Stigmatisierungstreiber."
Was konkret würde die Kindergrundsicherung hier verbessern?
Klundt: Es ist ein Skandal, dass wir seit mittlerweile über 15 Jahren den Kinderzuschlag und seit über 10 Jahren das Bildungs- und Teilhabepaket haben, und mehr als die Hälfte der Berechtigten, aus welchen Gründen auch immer, erhalten diese Leistungen nicht. Durch eine automatische Überweisung der Kindergrundsicherung könnte man ermöglichen, dass die Berechtigten auch an ihr Recht kommen, so wie beim Kindergeld auch. Ich plädiere aber auch dafür, dass wir bei der Kindergrundsicherung unterscheiden zwischen dem monetären Bedarf und der sozialen Infrastruktur. Und diese Infrastruktur müssen wir bereitstellen, zum Beispiel in der Lernmittelfreiheit.
Wie viel würde es eigentlich kosten, wenn alle bedürftigen Eltern die Leistungen bekommen, die ihnen zustehen? Gibt es dazu valide Zahlen?
Klundt: Man kann natürlich davon ausgehen, dass es einige Milliarden im Jahr mehr kosten würde, wenn man allen Berechtigten zu ihrem Recht verhilft. Das Bündnis Kindergrundsicherung spricht von 24 Milliarden Euro. Das Konzept von Familienministerin Lisa Paus (Grüne) ging ursprünglich von 12 Milliarden aus, jetzt von 2 bis 7 Milliarden. Es kommt darauf an, wie viele Kinder man in diese Berechnung einbezieht und wie hoch man deren Bedarfe anhebt. Da kommt man dann auf extrem differierende Beträge.
Die sich aber wahrscheinlich irgendwann wieder auszahlen würden. Bildung führt ja nachgewiesenermaßen zu geringeren Sozialausgaben und höheren Steuereinnahmen.
Klundt: Ich tue mich schwer damit, auf Mark und Pfennig zu berechnen, wie sich Bildung auszahlt. Es ist schlicht eine menschenrechtliche Frage, um die es hier geht. Aber natürlich ist das rein ökonomistisch betrachtet gut investiertes Geld. Es sind ja enorme Summen, die der Gesellschaft derzeit beispielsweise durch den Fachkräftemangel verloren gehen. Kinder, die von ihrem ersten Schultag an eine organisierte Bildungsarmut erleben und immer wieder benachteiligt werden, werden mit dem Bildungssystem schlecht zurechtkommen, können vielleicht auch später ihre produktiven Ressourcen für sich und für die Gesellschaft weniger einbringen. Umgekehrt bedeutet das, dass Kinder, die gerne in die Schule gehen und Freude am Lernen haben, hinterher weniger Kosten verursachen.
"Kinder, die von ihrem ersten Schultag an eine organisierte Bildungsarmut erleben und immer wieder benachteiligt werden, werden mit dem Bildungssystem schlecht zurechtkommen, können vielleicht auch später ihre produktiven Ressourcen für sich und für die Gesellschaft weniger einbringen."
Und welche Auswirkungen auf die Gesellschaft hätte eine Lernmittelfreiheit?
Klundt: Bei der Frage der Lernmittelfreiheit geht es aber ja immer auch um größere Zusammenhänge: um allgemeine Ungleichheit, um Armut und Reichtum. Die Kürzungen der vergangenen Jahre waren Teil einer Privatisierung des Bildungsbereichs, die dazu führt, dass es stärkere soziale Ungleichheit gibt. Wir alle wissen doch im Grunde, dass wir dort, wo besonders viele benachteiligte Kinder leben, die besten Schulen haben müssten, die meisten und besten Fachkräfte. Und wir alle wissen, dass wir de facto das Gegenteil haben. Diese Form von Ungleichheit, die wir heute haben, ist nicht vom Himmel gefallen, sondern sozioökonomisch verursacht.
"Diese Form von Ungleichheit, die wir heute haben, ist nicht vom Himmel gefallen, sondern sozioökonomisch verursacht."
Im aktuellen Kinderhilfereport nennen auch mehr als 90 Prozent der Befragten kostenfreie Lernmittel als wichtigen Baustein zur Bekämpfung von Kinderarmut. Aber wäre das nicht auch insofern ungerecht, als auch dann jene davon profitieren, die es gar nicht bräuchten?
Klundt: Ich verstehe dieses Argument. Aber ich bin ein grundsätzlicher Verfechter des Menschenrechts auf Bildung. Das bedeutet für mich: Bildung muss gebührenfrei zur Verfügung gestellt werden, unabhängig von der sozialen Herkunft des Kindes. Ich bin mir natürlich dessen bewusst, dass es Eltern gibt, die das alles mitfinanzieren könnten, und die werden auch weiterhin darüber hinaus ihre Kinder fördern, etwa durch Nachhilfe. Aber wir hätten dann wenigstens für alle Kinder die Möglichkeit geschaffen, sich im Bildungssystem von Anfang an gut einbringen zu können. Bei der Finanzierung von gebührenfreier Bildung und Lernmittelfreiheit mit gesundem Mittagessen sollten sich dann alle starken Schultern durch höhere Spitzensteuersätze, Vermögenssteuer und eine gerechte Erbschaftsteuer besonders beteiligen.