Kevin Spacey spricht vor dem Southwark Crown Court zu Journalisten
Alberto Pezzali/AP/dpa
Kevin Spacey (vorne), Schauspieler aus den USA, spricht vor dem Southwark Crown Court zu Journalisten. Er wurde im Londoner Strafprozess vom Vorwurf sexueller Übergriffe auf mehrere Männer in allen Punkten freigesprochen.
Kolumne evangelisch kontrovers
Der "Fall Spacey" und die Cancel Culture
Vor seinem Freispruch war der Schauspieler Kevin Spacey "gecancelt" worden. Kritiker meinen, die "Cancel-Culture" sei ein Zeichen der Hysterie. Ethik-Kolumnist Alexander Maßmann fragt: Was hat es tatsächlich mit dem Canceln auf sich?

Vergangene Woche wurde der Schauspieler Kevin Spacey in England von Vorwürfen sexueller Übergriffe freigesprochen. Zuvor hatte bereits ein amerikanisches Gericht in seinem Sinne entschieden. Doch der "Fall Spacey" war ein Fall im doppelten Sinn: Mit der öffentlichen Aufmerksamkeit wurde Spacey zu einem "Fall", einer öffentlichen Angelegenheit, und prompt ist er tief gefallen: Seine glänzende Filmkarriere kam zum abrupten Stillstand.

Spacey hatte zwei Oscars und mehrere andere Preise gewonnen, aber nun wurde er für keine neuen Filme mehr engagiert. Man schnitt ihn sogar aus einem Film heraus, der just fertiggestellt worden war. Dabei war ein Gerichtsurteil über ihn noch nicht in Sicht. Außerdem spielte er in der beliebten Netflix-Serie "House of Cards" die Hauptrolle, in der er immer wieder die "vierte Wand" durchbrach und sich direkt ans Publikum wandte. Doch als nun eine neue Staffel gedreht werden sollte, wurde seine Rolle kurzerhand aus dem Drehbuch gestrichen. Das Urteil zu seinen Gunsten steht nun in krassem Gegensatz dazu, wie man zuvor mit ihm umgegangen war. 

Spacey ist ein Beispiel für die "Cancel Culture": Ein vermeintlicher falscher Schritt bedeutet das soziale Aus. Der Begriff der Cancel Culture wird auch im politischen Sinn verwendet: Angeblich neige – je nach politischem Standpunkt – besonders die politische Linke oder die politische Rechte zum ungerechtfertigten "Canceln". In diesem politischen Sinn werde ich den Begriff Cancel Culture hier nicht eigens diskutieren. Es geht mir allgemein um das erschreckende soziale "Aus" aufgrund von unwägbaren Gerüchten und Vermutungen. Anstatt Toleranz zu üben oder sich des Urteils zu enthalten, wendet sich die Gesellschaft drastisch von denjenigen ab, die sie als Übeltäter brandmarkt, und cancelt sie. 

 

Besonders schlimm ist das Canceln für "normalsterbliche" Menschen, die keine Hollywood-Stars sind und zu Unrecht etwa eines sexuellen Übergriffs bezichtigt werden. Für Lehrer:innen, Pfarrer:innen, aber auch für Professor:innen kann das existenzbedrohend sein. Kann so etwas auch mir passieren? Früher hieß es: Vor Gericht und auf hoher See sind wir in Gottes Hand. Heutzutage drohen die Fallstricke besonders in der öffentlichen Meinung. Und noch etwas schwingt in der Anklage des Cancelns mit: Canceln tun die anderen. Ich selbst bin natürlich ein kühler Kopf und für die Toleranz. Aber ist es so einfach?

Kevin Spacey und die Unschuldsvermutung

Wie wird es für Spacey weitergehen? Manche werden sich fragen, ob seine mehrfachen sexuellen Annäherungsversuche tatsächlich die Missverständnisse waren, als die sie nun erklärt wurden. Aber er hat sich auch verwundbar gezeigt, so dass man Empathie mit ihm haben kann. Auf die Frage, ob er von Einsamkeit bewegt sexuelle Kontakte gesucht habe, antwortete er: "Willkommen im Leben. Ja, ja, das habe ich." Nun ist er als schwul geoutet, und die Öffentlichkeit weiß, woran sie ist. Ich vermute, dass es für Spacey wieder bergauf gehen dürfte. Der nächste Film mit ihm wurde noch für dieses Jahr angekündigt. Das Medien-Karussel wird sich weiterdrehen, und gut möglich, dass wir ihn in ein paar Jahren nicht mehr mit der Sache in Verbindung bringen.

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Ist das Canceln bloß die Hysterie der aufgeregten Moralisten?

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Dennoch ist der "Fall Spacey" lehrreich. Der Freispruch bewog kürzlich etwa den Spiegel-Kolumnisten Thomas Fischer  zur Frage, was aus der guten alten Unschuldsvermutung geworden ist – wie konnte man nur einen beliebten Schauspieler so krass canceln, bevor ein Gericht sorgfältig Schuld oder Unschuld erwogen hatte? Menschen verfallen in Panik, werden moralisch übersensibel und ergreifen kurzschlüssig für die vermeintlichen Opfer Partei. Wo die Ritter der Moral ihre Schlacht des Guten gegen das Böse schlagen, wächst kein Gras mehr. Ja, wie kann man nur? Gott bewahre uns vor den Gutmenschen und ihrer "moralischen Hysterie"!

Man sollte sich mit Thomas Fischer tatsächlich Gedanken über die Unschuldsvermutung machen. Meines Erachtens hat Fischer aber drei Gesichtspunkte des Falls Spacey übersehen, die wesentlich sind. Erstens wurde Spacey nicht von nur einem Ankläger beschuldigt, sondern gleich von vieren, und den Medien waren weitere Anschuldigungen zu entnehmen. Erhebt eine einzelne Person Anklage wegen einer sexuellen Grenzüberschreitung, könnte es sich unter Umständen um ein unschuldiges Missverständnis handeln. Dass aber vier Ankläger falsch liegen, strapaziert unser Vorstellungsvermögen. Und doch: Sie konnten das Gericht nicht überzeugen. 

Die Marktlogik

In dieser Situation ist es zweitens nicht verwunderlich, dass eine Marktlogik greift, die sich nicht einfach einfangen lässt, indem man die Öffentlichkeit bloß an die Unschuldsvermutung erinnert. 2017 und 2018 lautete die Frage für die Filmemacher: Würden sich die Kinobesucher und die Netflix-Abonnenten gegenüber Spacey fair verhalten und sich seine Filme erst einmal anschauen? Mehrere Verdächtigungen standen im Raum, aber ein Gerichtsurteil war noch nicht abzusehen.

Die amerikanische Filmbranche war bereits durch den Skandal um Harvey Weinstein stark erschüttert. 2017 warfen ihm über ein Dutzend Frauen sexuelle Gewalt vor – doch als Produzent war Weinstein schon lange an enorm vielen erfolgreichen Filmen beteiligt. Vielleicht fürchtete man bei Spacey auch Verhältnisse wie bei Bill Cosby, der besonders seit 2014 von über 60 Frauen der Vergewaltigung und anderer Vergehen beschuldigt wurde. Es schienen sich immer neue Abgründe der Gewalt aufzutun.

Für diejenigen, die finanziell in die Marke Spacey investiert hatten, stand zu viel auf dem Spiel – eine lange Hängepartie konnten sie sich nicht leisten. Netflix etwa hatte sich gerade auf neue internationale Märkte vorgewagt. Nun stand Spacey mit seiner Hauptrolle in der Netflix-Serie "House of Cards" für die neue Strategie, eigene Netflix-Serien selbst zu produzieren. Auch für andere Filmemacher hätte am Ende der Eindruck entstehen können, Hollywood habe schon wieder einen Verbrecher allzu lange gedeckt. Nun war Schadensbegrenzung mit einem klaren Schnitt gefragt. 

Es liegt also auch an der besonderen wirtschaftlichen Konstellation, dass Spacey früh und vehement Ablehnung erfuhr. Zu dieser Konstellation tragen wir alle bei, die wir an der herrschenden Konsumkultur Marke Hollywood teilhaben. Zwar hängen die cineastischen Entscheidungen – anschauen oder nicht anschauen – für viele eher nicht von der Biographie der Schauspieler ab. Doch indem wir einen Streamingdienst abonnieren oder das Kinoticket kaufen, unterstützen wir die Filmindustrie, und in der sind solche persönlichen Entscheidungen nun einmal von Bedeutung, ob wir das gut finden oder nicht. Und Hand aufs Herz: Dass in den USA die Begeisterung für den Massenvergewaltiger Bill Cosby abgestürzt ist, ist keine Prüderie.

Gleichgeschlechtlicher Sex

Drittens ist an der Causa Spacey die Frage der Geschlechter ungewöhnlich: Mehrere Männer klagten einen Mann an, er habe sie ungewollt sexuell berührt. Mit Weinstein und Cosby hatten zwei Männer zahlreichen Frauen Gewalt angetan, doch die vermeintliche, gleichgeschlechtliche Gewalt ist für die Öffentlichkeit bislang ungewöhnlich. Hier werden zunächst die gesellschaftlichen Machtverhältnisse umgekehrt: Dem Anschein nach waren die Opfer Männer. Außerdem betrachten viele Sex zwischen Männern anscheinend nach wie vor mit besonderem Argwohn. Nun konnten sich nicht mehr nur Frauen, sondern auch Männer fragen: Könnte das auch mir passieren? 

Es könnte also einem dumpfen Bauchempfinden gemäß so scheinen, als sei es hier nicht bloß zu sexueller Gewalt gekommen, wie sie leider häufiger geschieht – vielmehr könnten manche Männer, aber auch Frauen, auf den Gedanken kommen, dieser Fall wiege schwerer als die anderen Skandale. Hier hat die amerikanische Filmindustrie möglicherweise zu viel Rücksicht auf fragwürdige Befindlichkeiten des Publikums genommen.

Verdrängung

In einem Kommentar hatte Reinhard Mawick das öffentliche Verhalten gegenüber Spacey als eine "damnatio memoriae " bezeichnet. Man tut so, als hätte es den Beschuldigten nie gegeben, und sogar aus den Dokumenten wird er herausgeschnitten. So ging etwa die Sowjetunion mit Josef Stalin um, nachdem er gestorben war. In Stalins Fall ist dieses Verhalten rational nachvollziehbar, so zweifelhaft es moralisch auch war: Anstatt dass man sich dem Monströsen – nämlich Stalins Massenmorden – stellte und sich offen fragte, wie man damit umgehe, tat man lieber so, als habe es das überhaupt nicht gegeben. Konsequente Verdrängung ist manchmal die einfachste Strategie.

Einem Verdrängen fiel auch Spacey zum Opfer, der etwa aus einem Film herausgeschnitten wurde, obwohl sich die Anklagen später zerstreut haben. Diese Verdrängung bei Canceln zeigt doch anscheinend an, dass wir es bei bestimmten Vorwürfen sexueller Übergriffe mit einer Krise zu tun haben, der sich eine Gesellschaft nicht gewachsen sieht – und die man nicht mal schnell durch ein paar kluge Hinweise und Aufmunterungen entschärfen kann.

Eine zerstörerische Macht

In seinen Überlegungen zum Kreuz Jesu Christi hat der Theologe Michael Welker  darauf hingewiesen, dass die öffentliche Meinung eine zerstörerische Macht sein kann. "Unter dem Beifall oder sogar dem Druck der öffentlichen Meinung" wird Christus gekreuzigt. Sind wir gegen die öffentliche Meinung immun, wenn Menschen gecancelt werden? Dass wir alle zu Vorurteilen gegenüber Schwulen neigen (Punkt 3), will ich nicht behaupten. Dass wir aber vier Zeugen Glauben schenken, während wir bei einem Zweifel haben könnten (Punkt 1), ist nicht irrational. Auch kommt es durch den Marktdruck (Punkt 2) in der Filmindustrie leichter zur Praxis des Cancelns, weil die Filmindustrie von der öffentlichen Meinung abhängig ist. Das befördern wir, indem wir die Filmindustrie durch Streaming und Kinobesuch unterstützen – so sehr wir uns auch moralisch über einen gewissen amerikanischen Moralismus mokieren mögen. Die öffentliche Meinung kann zu einer zerstörerischen Macht werden, und dem können wir uns nicht so einfach mit einer abgeklärten Kritik der "Hysterie" oder des Cancelns selbst entziehen. Schließlich wurden auch schwere Gewaltverbrechen in der Filmindustrie aufgeklärt, weil hier und dort jemandem die ersten Anklagen einzelner Opfer zu Herzen gingen. Wir müssen uns auf die Ambivalenz unserer Moral einstellen, dürfen aber auch nicht gleich zu Relativisten zu werden.