So ganz leicht fällt es Kerstin Bartels noch immer nicht, die Dinge "einfach laufen zu lassen", wie sie lachend eingesteht. Doch die Pfarrerin aus der Jona-Gemeinde in Ludwigshafen am Rhein weiß, dass die Kirche nur eine Zukunft hat, wenn sie zuhört, was die Menschen wollen - und sie machen lässt.
Seit zwei Jahren läuft im Stadtteil West, einem sozialen Brennpunkt mit hoher Arbeitslosigkeit, Armut und Obdachlosigkeit, das Projekt "Experimatthäus": Die protestantische Innenstadtgemeinde lädt alle Bewohnerinnen und Bewohner dazu ein, neue Ideen für eine Kirche der Zukunft zu erproben.
Der Kirchenraum der in die Jahre gekommenen Matthäuskirche - einer von drei Kirchen der Gemeinde - ist fast leergeräumt, eine Reihe mit Kirchenbänken steht noch, daneben Campingstühle und Sitzkissen - und ein Baustellen-Schild. Wie kann die Kirche auch in Zukunft für die Menschen attraktiv sein? Diese Frage habe die Protestantinnen und Protestanten ihrer Gemeinde und auch sie selbst umgetrieben, sagt die Pfarrerin. "Wir wollen Kirche nicht dichtmachen, sondern umwandeln." Dabei solle die Kirche ein "Segens- und Gottesdienstraum" bleiben.
Kirche umwandeln, nicht dichtmachen
Es stand auf der Kippe, ob die Kirche im Quartier mit seinem hohen migrantischen Bevölkerungsanteil bleibt. Die Zahl der Kirchgänger in dem rund 5.000 Einwohner zählenden ehemaligen Schlachthofviertel ist stark rückläufig, die Gebäude aus den 1960er Jahren sind ein Sanierungsfall. Das Gemeindehaus soll nun abgerissen werden und einer Kita Platz machen. Und die Betonkirche selbst soll zu einem Ort werden, in dem Menschen zusammenkommen und Hilfe finden können, sagt die Pfarrerin. Gottesdienste finden in der Matthäuskirche nur noch unregelmäßig statt.
Um Thomas Wolf herum, der sich seit vielen Jahren ehrenamtlich in der Kirchengemeinde engagiert, hat sich eine Gruppe von Ehrenamtlichen gebildet. "Wir probieren einfach Dinge aus", sagt der Mann, der dem Zukunftsausschuss angehört. "Die Frau Pfarrerin wird oft nicht gefragt, es wird einfach gehandelt." Eine Leseecke in der Kirche und auch eine Küche für gemeinsames Kochen sind angedacht.
Kirchgarten wird zum Gemüsegarten
Um die Kirche herum ist eine grüne Oase gewachsen. Man sitzt im Schatten unter Sonnenschirmen, Pflanzentöpfe verbreiten mediterranes Flair. Aus dem brach liegenden Kirchgarten haben Frauen und Männer aus dem Stadtteil einen "Mitmachgarten" gemacht: Bohnen, Gurken und Petersilie werden angebaut.
Ein paar Meter weiter vor dem Gemeindehaus warten Frauen und Männer geduldig in einer langen Schlange, bis sie an der Reihe sind. Mitglieder des Vereins "Die Garage Ludwigshafen" verteilen gespendete Lebensmittel aus Supermärkten und Discountern sowie Kleider an bedürftige Menschen. "Ich bin froh, dass es das gibt", sagt ein 40-jähriger arbeitsloser Mann. Zwei bis dreimal in der Woche kommt er vorbei. Auch ein ukrainischer Flüchtling versorgt seine Familie mit Essbarem: "Das ist sehr hilfreich, wir haben nicht viel Geld."
Dolly El-Ghandour und ihre 65 Mithelferinnen und Mithelfer, die die Aktion während Corona-Pandemie angestoßen haben, sind dankbar, dass die Kirche ihnen einen Raum bietet. "Solche Projekte machen die Kirche sympathisch", sagt die Vereinsvorsitzende, "vielleicht finden wieder mehr Leute in die Kirche."
Die Ideen sammeln sich für "Experimatthäus" - was sich bewährt, soll für die Menschen im Stadtteil bleiben, sagt Pfarrerin Bartels. Mit anderen Vereinen, Organisationen sowie Hilfs- und Beratungsstellen will man sich weiter vernetzen. Dafür fördert das Land Rheinland-Pfalz eine Koordinierungsstelle, die bei der pfälzischen Diakonie angesiedelt ist. "Es ist immer jemand hier, der zuhört", sagt Thomas Wolf von der Kirchengemeinde, und er sieht glücklich aus: "Hier ist alles Multikulti."