ekumenizm.pl: Immer wieder tauchen die Begriffe Götterdämmerung, Rückkehr der Götter auf. Sie sprechen öfter von Säkularisierung oder von der Verflüssigung religiöser Inhalte. Geht es wirklich so erdrutschartig bergab?
Detlef Pollack: Es kommt darauf an, über welche Region und über welche Religion wir sprechen.
Das Christentum in Europa und natürlich in Deutschland.
Pollack: Die Abbrüche kann man hier nur als dramatisch bezeichnen. Ganz gleich, welchen Religiositätsindikator man nimmt – sei es Kirchenmitgliedschaft oder Kirchgang Vertrauen in die Kirche oder Glaube an Gott oder auch, für wie wichtig man Religion in seinem Leben hält - seit 50 Jahren lassen sich durchgehend fast nur Rückgangstendenzen beobachten und seit ungefähr zehn Jahren sogar fast durchweg nur eine Beschleunigung des Rückgangs. In Westdeutschland zum Beispiel – Ostdeutschland ist ein Sonderfall – bekannten sich 1949 knapp 90 Prozent zum Glauben an Gott. In den 1990er Jahren waren es 60 -70 % und jetzt sind es 50 %.
Beim Glauben an Gott handelt es sich um einen zentraler Religiositätsindikator, der mit anderen Variablen wie Kirchgang, Kirchenmitgliedschaft oder auch Spiritualität relativ eng zusammenhängt. Viele Menschen sagen, sie hätten Vorbehalte gegenüber den Kirchen, aber der Glaube bedeute ihnen etwas. Die Aussage ‚Ich kann auch ohne die Kirche glauben‘ ist ein verbreitetes Motiv für den Kirchenaustritt. Tatsächlich ist es aber nur eine Minderheit unter den Ausgetretenen, die sich tatsächlich zum Gottesglauben bekennt. In der Kirche ist es hingegen eine Mehrheit.
Jüngst hat die Deutsche Bischofskonferenz ihre aufsehenerregenden und historische Zahlen veröffentlicht. 520.000 Austritte nur in einem Jahr. Haben Sie so einen Einbruch erwartet?
Pollack: In dieser Höhe habe ich das nicht erwartet. Es war aber klar, dass die katholischen Austrittszahlen höher ausfallen werden als die evangelischen. Über Jahrzehnte lag die evangelische Austrittsrate konstant über der katholischen. Im Jahr, als erstmals die Missbrauchsfälle öffentlich diskutiert wurden, 2010, war es das erste Mal umgekehrt. Dann war die Zahl der Austritte aus der evangelischen Kirche wieder höher als die aus der katholischen. Seit drei Jahren aber liegen die katholischen Austrittszahlen konstant über den evangelischen. Die Umkehrung der Verhältnisse weist darauf hin, dass es sich um einen tiefgreifenden Einbruch handelt. Als Beobachter hat man den Eindruck, dass hier eine große Institution mit heute noch immer 21 Millionen Mitgliedern dabei ist, in schnellem Tempo zu zerfallen.
Werden diese Zahlen sich in den nächsten Jahren vervielfachen?
"Die Austrittswelle wird zunehmen und der Zuwachs wird sich wahrscheinlich beschleunigen."
Pollack: Die Austrittswelle wird zunehmen und der Zuwachs wird sich wahrscheinlich beschleunigen. Die jährliche Kirchenaustrittsrate in den 1950er Jahren betrug 0,2 - 0,3 %. In den 60er Jahren 0,7 %. Die höchsten Zahlen, die wir noch vor kurzem hatten, waren 1,2 - 1,4%, und jetzt haben wir 1,9 % bei der evangelischen Kirche und 2,5 % bei der katholischen. Das ist das Dreifache oder sogar mehr als das Dreifache im Vergleich zu den Zahlen aus den 60ern. Das ist eine ganz andere Qualität.
"Die Kirchen machen in meinen Augen in Deutschland eine ziemlich gute Arbeit."
(...) Ich sehe kaum Anzeichen dafür, dass der Trend der Entkirchlichung und Säkularisierung umgekehrt oder auch nur aufgehalten werden kann. Die Kirchen machen in meinen Augen in Deutschland eine ziemlich gute Arbeit. Ich kenne besonders gut die evangelische Kirche – es gibt viele Pfarrerinnen und Pfarrer, die sehr ansprechende Gottesdienste halten, die auf unkonventionelle Weise mit Jugendlichen arbeiten, die dialogisch und offen sind und auf die individuelle Bedürfnisse der Gläubigen eingehen. Die Art, wie sie die christliche Botschaft verkündigen, ist nicht mehr so konfrontativ und belehrend wie früher. Vielmehr setzt die Kirche heute auf leise Töne. Noch in den 50er Jahren war das Motto des Kirchentages "Rettet den Menschen". Heutzutage heißt es "Schaut hin".
Wie legen Sie das aus?
Pollack: Die Kirche ist bescheidener geworden, zurückhaltender. Jetzt beim Kirchentag in Nürnberg hieß es "Jetzt ist die Zeit." Aber wofür? Wer definiert, was an der Zeit ist? Die Kirche überlässt es den Gläubigen zu sagen, wofür die Zeit reif ist. Sie ist nicht mehr diejenige, die die Welt als Ganzes interpretiert, die sagt, was zu tun ist, was anliegt, sondern sie versucht, mit den Gläubigen auf Augenhöhe zu kommunizieren. Das gilt zumindest für die evangelische Kirche.
In der römisch-katholischen gibt es den Synodalen Weg, der sowohl Gegner als auch Befürworter in der Deutschen Bischofskonferenz hat. In der evangelischen Kirche gibt es immer neue Reformbestrebungen und Projekte und die Bilanz ist ernüchternd. Wie findet man den richtigen Weg? Sollte man konservativer werden oder noch liberaler, wenn es überhaupt geht? Was machen die Kirchen falsch?
"Die Kirchen machen vieles richtig, aber es hilft ihnen nichts."
Pollack: Also, das ist die falsche Frage. Die Kirchen machen vieles richtig, aber es hilft ihnen nichts. Was wir sehen, ist nicht nur und vielleicht noch nicht einmal in erster Linie das Versagen des Kirchensystems, sondern vor allem eine Krise des christlichen Glaubens. Wenn man sich die deutschen Zahlen anschaut, dann sehen wir, dass in Westdeutschland nur noch 20 % an den von Kirchen verkündeten Gott glaubt. Weitere 30 % sagen, ich glaube, dass es dort irgendetwas Höheres gibt, aber nicht einen Gott, wie ihn die Bibel beschreibt, und 50 % sind entweder Agnostiker oder Atheisten.
Die Kirchen können angesichts einer solchen Glaubenssituation nicht viel bewegen. Das Programm der Kirche ist die Verkündigung des Glaubens an Jesus, seinen Tod und seine Auferstehung, an das ewige Leben. Wenn die Menschen das nicht glauben, dann kann man den besten Gottesdienst machen, die beste Musik bestellen, die Jugend auf Rüstzeiten mitnehmen, sich neue Andachtsformate ausdenken, den Abwärtstrend wird man nicht umkehren.
Klingt wie eine Grabrede auf die Kirchen oder institutionalisiertes Christentum im Allgemeinen.
Pollack: Es ist mehr als das. Man muss konstatieren, dass nicht nur die Kirchen mehr und mehr verlieren, sondern es auch einen scharfen Rückgang in allen Formen des Glaubens gibt.
Aber vielleicht sollte man nicht aufgeben und ein Lichtlein am Ende des Tunnels sehen? Womöglich keine spektakuläre Wiedergeburt, aber doch eine bescheidene Form eines Aufbruches?
"Man muss es versuchen. Vielleicht gewinnt die Kirche neues Leben, wenn sie es verliert."
Pollack: Außerhalb Europas ist das Christentum sehr lebendig, gewinnt es zum Teil sogar Anhänger, aber in den hochindustrialisierten, hochpluralen, hochdifferenzierten Gesellschaften der beschleunigten Moderne, erweist sich das Christentum kaum als resilient. Die Hoffnung auf eine Wiedergeburt darf man nicht aufgeben, und ich finde es tapfer, dass sich die Kirchen gegen den umfassenden Säkularisierungstrend stemmen, dass sie mit neuen Formen des Gottesdienstes und der Seelsorge, aber auch mit strukturellen Reformen dem entgegenzuwirken versuchen. Man muss es versuchen. Vielleicht gewinnt die Kirche neues Leben, wenn sie es verliert. Der biblische Glaube an die Auferstehung würde dafür sprechen.
Nicht selten kann man vom konservativen Flügel in dieser oder jener Kirche hören, dass man schon genug rumexperimentiert hat, jetzt sei es an die Zeit wieder zu wohlbekannten, traditionellen Inhalten zurückzukehren. Ist nicht der Konservatismus, sei es in Form des Evangelikalismus oder reaktionären Katholizismus, eine Antwort auf diese radikale Krise?
Pollack: Wenn man in Deutschland in die evangelikalen Gemeinden geht, sieht man wirklich lebendige Gemeinden. Es kommen die Eltern mit ihren Kindern, die Menschen stehen zu ihrem Glauben und er bedeutet ihnen etwas. Es gibt eine eindrucksvolle Spontanität des Glaubens in diesen Gemeinden, ein Zusammenwirken von Individualisierung, die sehr stark emotional gefärbt ist, und Gemeinschaftlichkeit. Die Zahlen bleiben jedoch klein.
Diejenigen, die noch vor 20 Jahren gesagt haben, die Zukunft der EKD liege in den evangelikalen Gemeinden, sagen das heute nicht mehr, denn auch die Freikirchen verlieren. Wahr ist, dass viele, die mit den Landeskirchen unzufrieden sind, sich den evangelikalen Gemeinden anschließen, aber viele gehen auch weg. Erstaunlicherweise bleibt das Segment ungefähr stabil. 1 -2 % der gesamten Bevölkerung sind seit Jahrzehnten in diesen Milieus engagiert. Eine Trendumkehr ist durch die konservativen Kreise nicht zu erwarten. Natürlich wird die Kirche nicht sterben. Sie wird nur eben immer kleiner.
Und die Religionssoziologe werden auf einmal arbeitslos...
Pollack: Nun ja, unsere Bedeutung sinkt, zusammen mit der Religion. Viele Kolleginnen und Kollegen wollen das nicht wahrhaben. Die Reaktion vieler Religionssoziologen auf den Säkularisierungstrend besteht darin, dass sie Religion einfach umdefinieren und auch Ehrfurcht vor der Natur, Fußballbegeisterung, Verehrung von Popstars oder Yoga als Religion definieren. Aber diese Umdefinition geht am Selbstverständnis der Betroffenen vorbei und wirkt auf mich wie eine Arbeitsbeschaffungsmaßnahme für Religionssoziologen.
Beim Synodalen Weg wird von Skeptikern angeführt, dass alles, wofür die Befürworter des Synodalen Weges stehen, bereits in der evangelischen oder altkatholischen Kirche verwirklicht ist. In welche Richtung wird die katholische Kirche gehen – manche sprechen von einer sich anbahnenden Spaltung. Kann der Synodale Weg den Entkirchlichungstrend verlangsamen?
Pollack: Wenn keine Reformprozesse stattfinden würden, wäre der Abfall wahrscheinlich noch größer. Doch auch wenn die katholische Kirche das Frauenpriestertum einführen und den Zölibat abschaffen würde, würde es keine Umkehr bringen. Der Umbau der Kirche hilft nicht sehr viel. Wenn die Konservativen sagen, wir müssten konservativer werden, dann würde ich erwidern: Wenn Sie konservativer werden, verlieren Sie auch diejenigen, die sie noch haben, denn die meisten, die bleiben, sind liberal eingestellt.
"Es gibt nicht den einen Königsweg, mit dem man die Kirche retten kann."
Kirche ist ein Komplexum von ganz verschiedenen Haltungen. Es gibt nicht den einen Königsweg, mit dem man die Kirche retten kann. Die Kirche muss viele Perspektive zusammenhalten und aushalten, um den Prozess der Entkirchlichung zu verlangsamen. Die Stärkung konservativer Positionen hält nur wenige und wird noch mehr vertreiben.
Da wir uns gerade in Polen aufhalten, wäre es falsch, Sie nicht im Thema Säkularisierung in Polen zu befragen. Wie schaut ein deutscher Religionssoziologe auf Polen?
Pollack: Das Niveau der Religiosität und Kirchlichkeit in Polen ist viel höher als in Deutschland, aber wir beobachten zurzeit in den jüngsten Generationen der 18- bis 30-Jährigen einen plötzlichen, tiefgehenden Rückgang der religiösen und kirchlichen Bindung. Er ist fast dramatischer als der Rückgang, der sich über Jahrzehnte in Deutschland vollzogen hat. Man kann es relativ gut erklären, obwohl meine polnischen Kollegen rätseln, wie es dazu hat kommen können.
Für mich als externer Beobachter ist jedoch relativ transparent, was da abläuft. Das eine ist der Umorientierung von religiösen, nationalen, konservativen, kirchlichen Werten auf Werte der Selbstverwirklichung, auf das Streben nach sozialem Aufstieg und nach sozialer Anerkennung. Vor 1989 fanden die Menschen in Polen ihre Freiheit in der Kirche. Heute ist die Kirche dafür nicht mehr erforderlich. Das andere, was in die Augen springt, ist die konservative Anmutung der katholischen Kirche, die sie in der Moderne manchmal geradezu als Fremdkörper erscheinen lässt.
Sehen Sie da eine deutliche Zäsur?
Detlef Pollack: Die polnische Gesellschaft hat sich seit der Schocktherapie der 1990er Jahre stark verändert. Polen hat heute eine florierende Wirtschaft, die Karrieremöglichkeiten bietet, und die jungen Menschen sehen auch viele Gelegenheiten in der EU. Die katholische Kirche in Polen setzt noch immer stark auf Geschichte und nationale Werte, doch viele junge Leute finden sich in diesem Kontext nicht wieder. Es mag anziehende Angebote in der Kirche geben, aber die Attraktion der offenen, pluralen und dynamischen Gesellschaft ist für viele schlichtweg größer.
Lässt sich etwas Beruhigendes sagen?
Pollack: Kirche ist wichtig, wenn Menschen in ihrem Leben Krisen und Umbrüche erfahren. Dann kann die Kirche sie in diesen Situationen begleiten, durch Seelsorge, auch durch Rituale. Die Kirche muss nahe bei den Menschen sein. Vielen ist der Segen der Kirche ist wichtig, etwa wenn Kinder geboren werden, wenn die Nächsten zu Grabe getragen werden, wenn Menschen den Bund der Ehe eingehen. Da können Kirchen nach wie vor wichtig sein, obschon für ein kleiner werdendes Segment.
evangelisch.de dankt ekumenizm.pl für die Kooperation und das Interview (hier die Langfassung in polnisch)