Dorothea Wendebourg
© Ellen Franke
Die Berliner Kirchenhistorikerin Prof. Dr. Dorothea Wendebourg
Kirchenhistorikerin Wendebourg
Was ist ein guter, ein zeitgemäßer Gottesdienst?
Warum ist es wichtig, Gottesdienste zu feiern, und was steckt hinter der Häresie der Banalität? Hat evangelische Liturgie irgendein Überzeugungspotenzial oder ist sie passe? Über diese und andere Fragen ein Gespräch des polnischen Portals ewangelicy.pl mit der Berliner Kirchenhistorikerin Prof. Dorothea Wendebourg.

ewangelicy.pl: Wir sind fast sechs Jahre nach dem groß angelegten Reformationsjubiläum. Würden Sie sagen, dass sich die evangelische Kirche in Deutschland und darüber hinaus besser aufgestellt hat? Das war doch eines der Ziele dieser Feierlichkeiten.

Dorothea Wendebourg: Ja, die Feiern waren viele und groß. International wurden ökumenische Akzente gesetzt. Im schwedischen Lund gab es einen großen Gottesdienst, zu dem auch Papst Franziskus kam. Bei den Hauptveranstaltungen, die in Deutschland stattfanden und wo die Ökumene natürlich auch immer dabei war, da, hatte ich den Eindruck, ging es um reformatorische Selbstvergewisserung, zugleich aber auch um Selbstkritik des Protestantismus. Es gab viele Veranstaltungen, die Jubiläumsgottesdienste waren übervoll. Dass die evangelische Kirche seither aber in der Bevölkerung an Anziehungskraft gewonnen hätte, kann man nicht behaupten.

Muss man es nicht als eine unübersehbare Ernüchterung sehen, wenn zwei Jahre danach in der EKD die Frage aufgeworfen wurde, ob man immer noch Gottesdienste braucht? Es gab diese Debatte, an der auch Sie beteiligt waren und damals sagten: "Mit leeren Kirchen gibt es kein Christentum."

Dorothea Wendebourg: Das würde ich auch heute wiederholen, wobei ich den Eindruck habe, dass diejenigen, die sagen, die Kirche brauche keinen Gottesdienst, eine provokative Minderheit sind. Meines Erachtens hat die Provokation den Effekt, dass diejenigen, die anderer Meinung sind, sich stärker darüber klar werden müssen, warum wir den Gottesdienst brauchen. Ich kenne ganz wenige, die sich gegen den Gottesdienst aussprechen, aber ich kenne viele, die sagen: Gottesdienst muss mehr Gottesdienst sein, damit wir besser wissen, warum wir ihn brauchen. 

Was meinen Sie damit, dass der Gottesdienst mehr Gottesdienst sein soll?

Dorothea Wendebourg: Dass der Schwerpunkt im Gottesdienst auf dem Verhältnis zwischen Gott und den Menschen und den Menschen und Gott liegt, während wir uns sehr angewöhnt haben, den Gottesdienst als eine horizontale Veranstaltung zu sehen. Da sprechen wir für die Welt und was wir der Welt zu sagen haben. Unsere Gebete sind zum Teil nicht wirklich Gebete, sondern sie sind Proklamationen, in denen die Situation ausgenutzt wird, dass niemand dagegensprechen kann. Wir beugen zwar unsere Häupter vor Gott, aber dann kommt das jeweilige gesellschaftspolitische Programm in Gebetsform. Wir haben vielfach verlernt zu sehen, dass es im Gottesdienst um das Verhältnis der Menschen zu Gott geht und umgekehrt.

Manchmal, wenn man einen evangelischen Gottesdienst im Deutschlandfunk hört, gewinnt man den Eindruck, dass es einen Überraschungseffekt oder mindestens was Neues geben muss. Was lassen sich kreative Verantwortliche diesmal einfallen? Es gibt so gut wie nie einen ganz traditionellen evangelischen Gottesdienst. 

Dorothea Wendebourg: Da wäre ich etwas vorsichtiger, weil ein Radio- oder Fernsehgottesdienst eine eigene, sehr spezielle Veranstaltung ist. Da will man, dass etwas Spektakuläres läuft, nicht wie jeden Sonntag. Das finde ich vollkommen falsch. Wir sollten in den Medien das tun, was jeden Sonntag gemacht werden muss, aber auf hohem Niveau, wie es Radio oder Fernsehen eigentlich bieten könnten.

Bedeutet aber dieses hohe Niveau, dass man beispielsweise, das Gloria Patri oder Kyrie weglässt?

Dorothea Wendebourg: Ja, eben das ist der Fehler. Da glauben viele, im Radio oder Fernsehen müsse man alles neu erfinden, und ich halte eben dagegen, da sollte gute Musik und ein guter Prediger oder Predigerin sein. Und der Beter muss wirklich beten. Bei solchen exponierten Veranstaltungen könnte dann zum Ausdruck kommen, was ein Gottesdienst eigentlich ist. 

Vor kurzem habe ich im Radio einen Jugendgottesdienst zum Trinitatis-Fest gehört, wo man am Anfang nicht mal wagte, die traditionelle trinitarische Formel auszusprechen und stattdessen irgendwelche esoterisch-ähnliche Triade zum Ausdruck kam. Ist man nicht mehr imstande, das Glaubensbekenntnis ohne Fußnoten zu sagen?

Dorothea Wendebourg: Ja, wieder das Radio. Wären Sie zum Beispiel im Berliner Dom gewesen, hätten Sie ganz normale Gottesdienste mit Schwerpunkt Trinitatis erlebt. In einem davon war ich selber dran. Es wurde gepredigt für Trinitatis.  Der Rundfunkgottesdienst ist also kein Normalfall. Leider haben wir allerdings auch in manchen – nicht allen – normalen Gemeinden oftmals Allotria, also alles Mögliche andere. Statt des Kyrie kommt dann Pop und Jazz – wobei es auch Jazz-Kyries gibt, die hört man aber fast nie.

Ist dann überhaupt diese traditionelle Form des lutherischen Gottesdienstes immer noch ansprechbar? 

Dorothea Wendebourg: Ich glaube, dass wir unsere Gottesdienstformen diversifizieren müssen. Wir müssen vor allem Gottesdienste halten, die wirklich Gottesdienste sind. Klassische Gottesdienstformen haben ihre eigene Weisheit. Es ist ja kein Zufall, dass sie klassisch geworden ist, denn da sind die wesentlichen Dimensionen eines Gottesdienstes beieinander. In den meisten deutschen Gottesdiensten wird die klassische Form eingehalten, und zwar von Bayern bis Flensburg.

"Die Lieder sind nicht nur geistliche Schätze, sondern auch ein Kulturgut."

Aber wir haben große Probleme, bei den jüngeren Leute mit dem durchzukommen, was in unserem Erbe eigentlich das Strahlendste ist, nämlich den Liedern. Die Lieder sind nicht nur geistliche Schätze, sondern auch ein Kulturgut. Sie haben so lange stark und in weiten kirchlichen Kreisen geleuchtet, wie sie irgendwie mit der sonstigen Kultur in einem Dialog waren.

Aber in einer Zeit, in der junge Leute fast durchweg ganz andere Musik hören und mit den alten Melodien überhaupt nichts anfangen können, müssen wir uns öffnen für andere Formen mit anderen Liedern, ohne gleich alles über den Bord zu schmeißen. Die Weisheit des Protestantismus muss sein, in den nächsten Jahrzehnten eine Diversifizierung von Gottesdienstformen zu schaffen, klassischen und neueren, in denen es aber trotzdem so viele gemeinsame Elemente gibt, dass immer klar ist – das ist evangelisch-lutherischer Gottesdienst. 

Traditionelle Lieder sind auch Träger eines bestimmten theologischen Denkens und Gottesbildes... 

Dorothea Wendebourg: Und einer Kultur! Dass unsere lutherischen Lieder in der Reformationszeit, aber auch später so erfolgreich waren, hing auch damit zusammen, dass die Menschen auch im sonstigen persönlichen und gesellschaftlichen Leben so sangen, musizierten oder Musik hörten. Martin Luther nahm in seinen Liedern des Trostes oder der Freude auch Tanzrhythmen seiner Zeit auf. Johann Sebastian Bach schrieb Kantaten über das Kreuz Jesu Christi und über das Kaffeetrinken – beides auf hohem Niveau und beides zur Freude der Hörer und der Musikanten.

Dasselbe gilt für die evangelische Musikkultur in anderen Ländern, ob England oder Dänemark. Die Choräle waren keine musikalisch-kulturellen Inseln. Womit ich nichts gegen unsere alten Lieder sagen will – ich liebe sie und kann gar nicht genug davon singen. Doch kann ich diese kulturelle Prägung und diesen Geschmack nicht zum allgemeinen Maßstab machen, sonst singe ich am Ende mit ein paar anderen meiner Art in der Kirche allein.

Wenn wir in den Gesangbüchern lesen: "O, Jesu dein teures Blut" oder "Ein feste Burg", da gibt es reichlich Leute, die sagen: "Ich kann den Text gar nicht mitsingen." 

Dorothea Wendebourg: Das sind zwei verschiedene Fragen: die Frage des Inhalts und die Frage der Musik. Ich habe den Eindruck, die Musikkulturfrage ist im Moment viel schwieriger, weil unsere Jugendlichen eine ganz andere Musik gewohnt sind. Die ticken, tanzen und hören anders, und für sie sind klassische Lieder entweder traurig oder langweilig. 

Daher diese starke Anziehungskraft von evangelikal geprägten Hymnen, die religiöse Inhalte im Popformat anbieten... 

Dorothea Wendebourg: Genau, und davon können wir lernen und dem Apostel folgen: Prüft alles und behaltet das Beste! Es geht nicht darum, dass wir die Freikirchen kopieren, aber dass wir von ihnen lernen. Das gleiche mit Taizé-Liedern. Ich mag die nicht besonders, ein Kollege von mir sagte, das sei wie eine sich immer wiederholende Karussel-Musik. Aber ich kann nicht sagen: alles inhaltlich substanzlos. Und ich sehe, wie diese Musik viele Leute anspricht und mit Hingabe gesungen wird. Das andere ist die Frage der Inhalte, ob Sachen theologisch vertretbar sind. 

Freilich auch in diesen evangelikalen Lobpreisliedern sind Elemente enthalten, die gar nicht modern klingen – manche sind weltabgewandt und gerade nicht zeitgemäß... 

Dorothea Wendebourg: Ja, sie sind oft viel konservativer in ihrem Inhalt als viele von unseren Chorälen, die vielfach gar nicht so altmodisch sind, nur weil sie in der Sprache von Paul Gerhardt oder Luther sprechen. Nehmen wir ein Beispiel: 'Ein feste Burg' ist kein reaktionäres Lied, wie oft behauptet wird, es ist ein revolutionäres Trostlied. Es wurde missbraucht von den Nazis. Aber die norwegischen Lutheraner haben dieses Lied gerade gegen die nationalsozialistische Besatzung gesungen, auch die koreanische Christen gegen die Diktatur in ihrem Land. Das heißt, dass dies Lied nicht von braunen deutschen Protestanten vereinnahmt werden kann. Den überlassen wir das Lied nicht. Es gehört uns. 

In einem Interview haben Sie beklagt, es gebe in der evangelischen Kirche vielerorts einen liturgischen Wildwuchs. Gehört er nicht womöglich zur DNA des Protestantismus -  in der römischen Kirche werden liturgische Missbräuche ja gern als Protestantisierung der katholischen Liturgie gebrandmarkt? 

Dorothea Wendebourg: Man muss zwischen Freiheit und Wildwuchs unterscheiden. Liturgische Freiheit gehört zur Freiheit des Protestantismus, was wir schon in der Reformationszeit sehen können. Es gab schon damals verschiedene liturgische Formen, und die Reformatoren waren nicht dagegen. Das Kriterium ist, dass bestimmte Dinge immer eingehalten werden: Schriftlesung, die Auslegung, das Gebet, das Singen der Gemeinde, das Abendmahl, und das alles in einer Form, die nicht ständig wechselt.

"Wildwuchs ist, wenn man keine Kriterien mehr hat"

Wildwuchs ist hingegen, wenn man keine Kriterien mehr hat, sondern irgendwie nach Geschmack oder Antipathie mal dieses oder jenes ausprobiert, weil man diese oder andere Gruppe zufriedenstellen will. Das nenne ich Wildwuchs, und er gehört nicht zur DNA des Protestantismus. Es gibt eine Häresie, die dem Evangelium widerspricht, aber es gibt eben auch die Häresie der Willkür und der Banalität, wenn wir das, was wir zu sagen haben, verschleudern, nur weil jemand dies oder das toll findet. 

Sie sind Kirchen- und Dogmenhistorikerin. Glauben Sie, es hat heute noch Sinn von Lutheranern oder Reformierten zu sprechen. Sind diese Identitätsmerkmale nicht obsolet geworden?

"Keine Konfession hat ein Gesicht, wenn sie ihr Erbe preisgibt."

Dorothea Wendebourg: Einerseits haben durch die Entwicklung der Kirchen viele der konfessionellen Eigenheiten heute nur noch das Gewicht eines spezifischen Akzentes. Vieles, was früher Gegensätze zwischen den protestantischen Konfessionen waren, ist zu unterschiedlichen Akzenten geworden (im Verhältnis zum römischen Katholizismus sieht es anders aus). Das heißt nicht, dass die Akzente einfach wertlos sind. Keine Konfession hat ein Gesicht, wenn sie ihr Erbe preisgibt. Insofern denke ich schon, die lutherischen Kirchen sollten an dem, was für sie spezifisch ist, festhalten, aber nicht in dem Sinne, dass sie den Reformierten vorschreiben, ihr sollt das gleiche machen. 

Dann aber ganz konkret, welches Potenzial hat das lutherische Abendmahlsverständnis?

Dorothea Wendebourg: Das lutherische Abendmahlsverständnis hat gegenüber dem reformierten das Potential, dass die Gegenwart Jesu Christi, und zwar des ganzen Christus, wahrer Mensch und wahrer Gott, hier stärker betont und rituell klarer zum Ausdruck gebracht wird. In der Sache bestreiten das die Reformierten heute, nach der Leuenberger Konkordie, nicht mehr. Die Reformierten betonen in ihrer Liturgie, wenn sie richtig gefeiert wird, den gemeinschaftlichen Aspekt des Sakraments stärker.

Ich finde es schon richtig und wichtig, was wir da theologisch vertreten und in welcher Form wir es ausdrücken. Die traditionelle Sorgfalt der Lutheraner im liturgischen Vollzug ist etwas, was wir schätzen und bewahren sollten, das gehört zu unserem lutherischen Erbe, das wir nicht verspielen sollten. 

Sie sind Orthodoxie-Expertin und Autorin eines Standardwerks zur Orthodoxie, das Ihre Habilitationsschrift war. Vielleicht sollte man nicht nur von Evangelikalen, sondern eben von Orthodoxen lernen, die Schönheit des Liturgischen wiederzuentdecken. Die Orthodoxie verzaubert doch viele Protestanten mit Ästhetik, Mystik und Spiritualität?

Dorothea Wendebourg: Oder dem, was sie für Orthodoxie halten. Da kann ich nur von mir selber reden. Die Bücher, die ich zur Orthodoxie geschrieben habe, entstanden in der Zeit, als ich einige Jahre in Rom lebte. Das war an einem Institut der Jesuiten für Ostkirchenkunde, sie hatten die beste Bibliothek für meine Zwecke. Und da bin ich auch immer zum russisch-orthodoxen Gottesdienst gegangen. Ich fand es am Anfang wunderbar, aber auf Dauer habe ich bemerkt, dass es mich unbefriedigt ließ.

Sie hatten keine Versuchung, orthodox oder katholisch zu werden?

Dorothea Wendebourg: Nein, überhaupt nicht. Ich wollte diese Gottesdienste besuchen, um eben besser zu verstehen, wie sie gestaltet waren und was ich in ihnen schön fand. Doch da war zu viel rituelle Wiederholung und zu wenig Abwechslung, wie wir sie etwa in unseren Liedern haben. Weiter störte mich der Mangel der Gemeindebeteiligung.

"Ein reiner Ritus (...), der mich nicht zum Denken bringt, ist für mich zu wenig."

Was mir auch fehlte, war die Beanspruchung meines Denkens, wie sie durch die Predigt gegeben ist. Ein reiner Ritus, der Sonntag für Sonntag wesentlich derselbe ist, wo ich in keiner Weise partizipiere, der mich nicht zum Denken bringt, ist für mich zu wenig. Bei den Katholiken Roms habe ich mir das auch gut angeschaut, diese schöne, durchstilisierte und gut geplante Liturgie, wobei ich schnell merkte, das in lokalen Gemeinden durchaus nicht alles so verlief, viel Improvisation, poppige Musik. Und die Predigten störten mich, Moral und eine Banalität nach der anderen. Am Ort hatte ich eine lutherische Kirchengemeinde, die klassisch gefeiert hat, wir haben gesungen, die Predigt war mal so mal so, aber mir ist klargeworden, was ich habe und schätze. 

Historiker beschäftigen sich mit der Vergangenheit, aber trotzdem riskiere ich die Frage: Hat sich Ihre Sicht auf Orthodoxie in den letzten Jahren, Monaten, besonders seit der russischen Invasion in der Ukraine verändert?

Dorothea Wendebourg: Ja, sie hat sich schon in den späten 90er Jahren verändert. Ich bin sehr früh in verschiedene ökumenische Dialoge gekommen. Einer davon war zwischen dem Lutherischen Weltbund und der Weltorthodoxie. Dann die theologische Kommission des Genfer Weltkirchenrates (Faith and Order), zu der neben vielen orthodoxen auch die römisch-katholische Kirche gehört.  

In den ökumenischen Gesprächen mit der Orthodoxie hat es mich abgestoßen, dass da enormes theologisches Selbstbewusstsein vorgebracht wurde im Sinne "Wir sind die einzige wirkliche christliche Kirche!", und gleichzeitig herrschten Unkenntnis und Desinteresse gegenüber dem, was die ökumenischen Partner vertraten. So war es bei Russen und Griechen, allerdings nicht bei Orthodoxen, die in der Diaspora leben, die Orthodoxen aus Frankreich oder aus Amerika waren anders.

"Was die rückhaltlose Unterstützung und ideologische Rechtfertigung betrifft, mit der sich das Moskauer Patriarchat hinter die russische Regierung und ihren Angriffskrieg stellt, so ist das auch christlicher Sicht unfassbar."

Was die rückhaltlose Unterstützung und ideologische Rechtfertigung betrifft, mit der sich das Moskauer Patriarchat hinter die russische Regierung und ihren Angriffskrieg stellt, so ist das auch christlicher Sicht unfassbar. Und es macht das den Eindruck, dass diese Kirche nichts aus ihrer Vergangenheit gelernt hat. Das Desaster, das nach 1917 aus ihrer engen Verbindung mit der Staatsmacht folgte, daraus müsste man doch gelernt haben.

Sie beschäftigen sich als Theologin mittlerweile vor allem mit der Reformationsgeschichte. Wie sieht aus Ihrer Sicht die polnische Reformationsgeschichte aus?

Dorothea Wendebourg: Die Geschichte der polnischen Reformation und der ersten Generationen evangelischer Polen finde ich sehr interessant, und ich habe meinen erstaunten Studenten in der Vorlesung immer gesagt, was hier in Polen geschah und möglich war. Hier fand die Reformation ein starkes Echo - sei es lutherisch oder reformiert. Es gab die Möglichkeit, dass neben der römisch-katholischen auch diese evangelischen Kirchen, dazu Antitrinitarier und Juden, in großer Freiheit hier lebten – in einer Zeit, als bei uns und in ganz Westeuropa die Territorien schon mit politischer Macht monokonfessionell geworden waren. Daraus müssten Sie Polen mehr machen, mehr Reklame für Ihr Land! Es stimmt einfach nicht: Polonia semper catholica. Jenes religiöse Freiheitserbe sollten Sie auf den Leuchter stellen.

evangelisch.de dankt ewangelicy.pl für die Kooperation. Das Interview mit Prof. Wendebourg auf ewangelicy.pl.