Nargess Eskandari-Grünberg
© Stadt Frankfurt am Main
Nargess Eskandari-Grünberg war im Iran inhaftiert, floh als junge Frau nach Deutschland. Heute setzt sie sich als Frankfurter Bürgermeisterin für Menschenrechte und Toleranz ein.
Bürgermeisterin kritisiert Iran
Gottesglauben als Waffe pervertiert
Aus dem Iran stammende Nargess Eskandari-Grünberg im Interview
Religionsgemeinschaften könnten ihre Mitglieder dafür sensibilisieren, was staatliches Unrecht im Iran sei, sagt Frankfurts Bürgermeisterin Nargess Eskandari-Grünberg im Interview mit dem Portal evangelisch.de. Die Hilfe für die Protestbewegung und Geflüchtete habe "eine religiöse Dimension": "Wir haben es bei dem Regime mit einer klerikalfaschistischen Organisation zu tun, die den Gottesglauben zu einer Waffe gegen die eigene Bevölkerung gemacht hat", sagte sie.

Als junge Frau war sie einst im berüchtigten Evin-Gefängnis im Iran inhaftiert, nachdem sie gegen das Mullah-Regime aufgestanden war. Die Frankfurter Bürgermeisterin Nargess Eskandari-Grünberg kann über den Unrechtsstaat aus eigener Erfahrung berichten. Mechthild Klein interviewte die Grünen-Politikerin für evangelisch.de.

Eskandari floh 1985 mit ihrem Baby nach Deutschland, wurde in Psychologie promoviert, 2021 wurde sie Bürgermeisterin in Frankfurt am Main und hat das Schicksal von Geflüchteten nie vergessen.

Mechthild Klein: Im Iran gibt es seit zehn Monaten eine Revolte gegen das islamistische Mullah-Regime. Wie blicken sie heute auf den Iran und die Freiheitsbewegung?

Nargess Eskandari-Grünberg: Ich habe den größten Respekt vor den mutigen Menschen im Iran, die sich jeden Tag der erbarmungslosen Gewalt des Regimes entgegenstellen. Sie kämpfen für die Demokratie, für die Menschenrechte, für die Freiheit und riskieren dabei alles. Jede Begegnung mit den Schergen des Regimes kann für sie tödlich enden, jederzeit können sie aus ihren Wohnungen gerissen und inhaftiert werden. Aber sie geben nicht auf, denn sie wollen ein selbstbestimmtes Leben in Würde führen.

"Ein Land lässt sich nicht allein durch Terror und Angst beherrschen."

Der Tod Jina Mahsa Aminis im September 2022 hat etwas in Gang gesetzt, das sich nicht mehr rückgängig machen lässt – eine demokratische Revolution, die von Frauen begonnen wurde. Mich schmerzt das Leid der Bevölkerung, aber genau wie sie trage ich die Hoffnung im Herzen, dass das Regime bald zu Fall gebracht wird. Es wird fallen. Ein Land lässt sich nicht allein durch Terror und Angst beherrschen. Die Frage ist nur, wie lange es noch dauert.

Seit September 2022 haben iranische Milizen mehr als 20.000 Menschen in haftiert, auch gefoltert, Hunderte erschossen. Nur weil sie protestiert haben. Wie steht es um die Solidarität aus Deutschland?

Nargess Eskandari-Grünberg: Die Bevölkerung Deutschlands steht auf der Seite der iranischen Revolution. Das wurde in zahlreichen Demonstrationen und Kundgebungen deutlich. Die schreckliche Lage, die Menschenrechtsverletzungen, die Misshandlung von Frauen und der LGBTQI-Community lässt die wenigsten kalt. Allerdings sind wir in einer Situation multipler globaler Krisen, sodass die demokratische Revolution immer wieder droht, aus dem Blick zu geraten.

"Ich wünsche mir, dass wir nie aufhören hinzuschauen."

Ich denke hier beispielsweise an das Todesurteil gegen Jamshid Sharmahd, der deutscher Staatsbürger ist. Allerspätestens in diesem Augenblick, da ein Bürger des eigenen Staates in einem Schauprozess zum Tode verurteilt wird, hätte das ganze Land aufstehen müssen. Ich wünsche mir, dass wir nie aufhören hinzuschauen. Immer wenn die internationale Staatengemeinschaft wegsieht, fühlt sich das Regime ermuntert, weiter zu morden. Heute sieht man auf den Kundgebungen vor allem Exiliraner:innen. Die Solidarität muss praktisch, sie muss auf die Straße und in die Parlamente getragen werden.

Eskandaris Tochter Maryam Zaree (re.) wurde im Gefängnis in Iran geboren. Heute ist sie erfolgreiche Filmemacherin. Mutter und Tochter zeigten sich gemeinsam bei der Verleihung des Hessischen Film- und Kinopreises 2019 in der Alten Oper Frankfurt.

Die Urteile im Namen der Justiz der islamischen Republik heißen "Korruption auf Erden" oder "Krieg gegen Gott". Obwohl Menschen nur die Freiheit leben wollen. Was bedeuten die Urteile?

Nargess Eskandari-Grünberg: Es ist eine Eigenheit des Regimes, eigene Gewalt über vermeintliche Rechtsprechung zu legitimieren. Allerdings gibt es im Iran keine Rechtsprechung, nur Unrechtsprechung. Die Prozesse sind eine Machtdemonstration des Regimes, sie dienen dazu, ihre ideologischen Leitlinien zu veranschaulichen. Menschen, die im Iran vor Gericht landen, haben keine Möglichkeit, sich zu verteidigen, sie sind der Willkür ausgeliefert. Folter soll zum Geständnis zwingen. Oft werden Todesurteile bei einer Verhandlungsdauer von unter einer Stunde gefällt. Das genügt den Richtern, ihr pervertiertes Religionsverständnis loszuwerden, um damit ein Leben auszulöschen. Sie demonstrieren damit aber auch die eigene Schwäche ihres Glaubens. Ihr Gott muss vor einem Rapsong oder vor einer Parole beschützt werden. So fragil sind ihre Überzeugungen, dass sie keine auch noch so kleine Irritation aushalten.

Sanktionen aus Deutschland waren bislang eher Lippenbekenntnisse. Deutschland ist einer größten Handelspartner des Iran. Was kann die EU oder Deutschland machen, damit die Freiheitsbewegung gefördert wird?

"Deutschland muss sofort sämtliche Wirtschafts- und politischen Beziehungen zum Regime abbrechen."

Nargess Eskandari-Grünberg: Jedes Geschäft mit dem mörderischen Regime verlängert das Leid der Bevölkerung. Deutschland muss sofort sämtliche Wirtschafts- und politischen Beziehungen zum Regime abbrechen und darauf hinwirken, dass die EU genauso verfährt. Oft wird behauptet, dass dies der Bevölkerung schaden würde, aber die Bevölkerung stellt diese Forderung selbst. Man schüttelt keine Hände, an denen Blut klebt. Unsere Ansprechpartnerin im Iran ist die demokratische Revolution. Erst nach ihrem Erfolg können wieder guten Gewissens die Beziehungen aufgenommen werden. Wirtschaftliche Interessen dürfen nicht schwerer wiegen als Menschenrechte.

Nargess Eskandari-Grünberg, Bürgermeisterin von Frankfurt sowie Dezernentin für Diversität, Antidiskriminierung und gesellschaftlichen Zusammenhalt, sprach beim Festakt in der Frankfurter Paulskirche 2023 zum 175. Jahrestag des Tagungsbeginns der Nationalversammlung.

Wie formiert sich neuer Widerstand gegen das Mullahregime? Ist das Kopftuch immer noch Symbol für die Unterdrückung der Frauen?

Nargess Eskandari-Grünberg: Das Kopftuch bleibt ein zentrales Symbol der Frauenunterdrückung im Iran. Heute sehen wir häufig Bilder oder Videos von Frauen, die sich ohne Kopftuch im öffentlichen Raum bewegen. Wir dürfen nicht vergessen, was das bedeutet: Die Frauen gehen damit ein enormes Risiko ein, sie werden zur Zielscheibe für den "Tugendterror". Ihr Mut und ihre Entschlossenheit sind bewundernswert.

"Alle Menschen des Irans müssen befreit werden."

Einige Provinzen sind besonders betroffen von der Gewalt des Regimes. Beispielsweise attackiert das Regime immer wieder gezielt belutschische oder kurdische Regionen, weil es glaubt, hier mit weniger Solidarität rechnen zu können. Die demokratische Revolution meint aber die ganze Bevölkerung des Irans. Alle Menschen des Irans müssen befreit werden.

Was können einzelne Menschen hier machen, um die Freiheitsbewegung zu unterstützen?

Nargess Eskandari-Grünberg: Ich selbst habe die Patenschaft für einen jungen Iraner übernommen. Es ist wichtig, der iranischen Bevölkerung zu zeigen, dass sie nicht allein ist, dass wir sie nicht vergessen. Sie müssen sehen können, dass sie im Ausland bei ihrem Kampf um die Freiheit unterstützt werden. Das bedeutet, dass wir hier auf die Demonstrationen und Kundgebungen gehen sollten.

Wir müssen den Druck auf politische Parteien erhöhen, endlich die Forderungen der Revolution umzusetzen. Das heißt erst einmal anerkennen, dass es sich um eine Revolution handelt. Die Revolutionsgarden sind auf die Liste terroristischer Organisationen zu setzen. Vertreter des Regimes sollen sich nicht mehr frei bewegen dürfen. Dafür können wir uns stark machen.

Was könnten Kirchen und Religionsgemeinschaften beisteuern?

"Die Gemeinden können dagegen halten mit dem Glauben an Liebe und an Solidarität."

Nargess Eskandari-Grünberg: Die Religionsgemeinschaften können dabei helfen, dass ihre Mitglieder immer wieder für das Thema sensibilisiert werden. Mitglieder können die exiliranische Protestbewegung unterstützen, sie können die Politik adressieren und sie können Geflüchteten helfen. Das hat auch eine religiöse Dimension: Wir haben es bei dem Regime mit einer klerikalfaschistischen Organisation zu tun, die den Gottesglauben zu einer Waffe gegen die eigene Bevölkerung gemacht hat. Die Gemeinden können dagegen halten mit dem Glauben an Liebe und an Solidarität. Mehr bleibt den Menschen im Iran nicht als die Liebe zueinander. Aber es ist diese Liebe, die über die Gewalt triumphieren wird.