Seit dem gewaltsamen Tod von Mahsa Amini in Polizeigewahrsam vor sechs Monaten ist nichts mehr wie es vorher war. Schülerinnen und Studentinnen waren die ersten, die ihr Kopftuch ablegten und ihr Recht auf Selbstbestimmung einforderten. Die österreichische Diplomatin und Menschenrechtsaktivistin Shoura Hashemi dokumentiert die Revolte seit September 2022 intensiv auf Twitter. Mit evangelisch.de sprach sie über die Hintergründe.
evangelisch.de: Frau Hashemi, wie reagieren die Menschen im Iran auf die Giftgas-Anschläge auf Mädchenschulen? Und wer könnte dahinter stecken?
Shoura Hashemi: Die Menschen sind schockiert darüber, dass das Regime bzw. Teile des Regimes so weit gehen, um junge Mädchen für ihren Proteste zu bestrafen. Viele Schülerinnen führten im Herbst 2022 innerhalb der eigenen Schule regimekritische Aktionen durch. Sie sangen und legten ihren ihre Schleier ab und zerrissen Bilder des Ayatollah, der Revolutionsführer. Gleichzeitig zeigt es allen auch, wie sehr die Protestbewegung im Iran das Regime verunsichert. So gut wie jede meiner Quellen aus dem Iran ist überzeugt davon, dass die Urheber dieser Anschläge innerhalb des Regimes selbst zu finden sind. Für jede andere Gruppierung wäre es so gut wie unmöglich, landesweit so gezielt und koordiniert zu arbeiten und vor allem an derartige Giftgasbestände zu gelangen. Die ersten Berichte über Giftgasangriffe auf Schulen gab es bereits im November 2022 in der Stadt Qom. Diese Angriffe werden also schon seit Monaten durchgeführt.
Foto: Schülerin demonstriert vor den Mullah-Führern der islamischen Revolution
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Im Iran gab es immer wieder Aufstände gegen das Regime, die blutig niedergeschlagen worden sind. Diese Revolution gilt als feministisch, warum?
Hashemi: Es ist eine feministischen Revolution, weil die Frauen als Erste nach der Ermordung von Mahsa Jina Amini auf die Straßen gegangen sind. Sie haben ihren Zwangshijab abgenommen und sogar teilweise verbrannt. Natürlich haben sich, und das ist sehr wichtig, auch relativ rasch die Männer angeschlossen. Aber ausgegangen ist das Ganze von den Frauen. Es waren auch zwei mutige Journalistinnen, die als Erste über den Tod von Mahsa Jina Amini berichtet haben. Nilufar Hamedi und Elahe Mohammadi sind deshalb bis heute in Haft. Bei den vorangegangenen Protestbewegungen 2009 ("Grüne Bewegung"), 2017/18 und 2019 standen jeweils eine Wahlfälschung und wirtschaftliche Gründe (Inflation, Verdreifachung des Benzinpreises) im Vordergrund.
Die Gefängnisse sind voller junger Demonstrant:innen. Die Urteile gegen sie lauten: "Krieg gegen Gott" oder "Verdorbenheit auf Erden" - was bedeuten diese Urteile?
Hashemi: "Krieg gegen Gott" und "Korruption auf Erden" sind Straftatbestände, die es seit der islamischen Revolution 1979 gibt. Die religiöse Basis dieser Tatbestände ist eine Koransure. (Anm. d. Red.: Die Sure Al-Ma:idah 5:33*). Herangezogen werden diese Tatbestände ausschließlich vor den sogenannten Revolutionsgerichten, die ebenfalls mit der islamischen Revolution 1979 eingerichtet wurden. Vor diesen Gerichten werden "Straftaten" verhandelt, die das religiöse Gefüge der islamischen Republik in Frage stellen. Unter diese beiden Straftatbestände kann in der Praxis grundsätzlich alles subsumiert werden. Vom Schreiben regimekritischer Lieder, Slogans auf Hausmauern bis zum Anzünden eines Müllcontainers oder Fotos des Revolutionsführers. Oft werden die beiden Tatbestände, insbesondere bei den Schauprozessen gegen Demonstrierende, kombiniert, um eine "stärkere" Basis für eine Verurteilung zu haben. Das Urteil ist dann regelmäßig die Todesstrafe.
1*) Sure 5:33 übersetzt von Hartmut Bobzin, Der Koran, München 2012, S. 97: "Doch die Vergeltung derer, die gegen Gott und seinen Gesandten kämpfen und im Lande auf Unheil aus sind, die ist, dass sie getötet oder gekreuzigt werden oder ihnen ihre Hände und Füße abgehauen werden... oder sie aus dem Land vertrieben werden...." Diese Koranstellen sind jedoch von Akten der Vergebung gerahmt, die vorzuziehen sind.
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Welche Rolle spielt die Religion in der islamischen Republik? Es heißt ja oft Gottesstaat!
Hashemi: Die islamische Republik ist formell tatsächlich ein Gottesstaat, weil ihre Verfassung auf dem Prinzip der "Herrschaft des Rechtsgelehrten" beruht. Diese Herrschaft des Rechtsgelehrten ist eine Erfindung von Ayatollah Khomeini, dem Gründer der islamischen Republik. Er hat sich in seinen vielen Jahren im Exil, vor der Rückkehr in den Iran 1979, stark damit befasst, eine neue Staatsform auszuarbeiten. Diese Staatsform sollte eine religiös begründete sein, deren Gesetze in Einklang mit der Scharia oder Schia stehen. Interessant ist, dass Khomeini mit dem in der Schia vor der islamischen Revolution gängigen Prinzip des Quietismus, also des Heraushaltens der Geistlichkeit aus der Politik und der Regierungsarbeit, völlig bricht. Vor Ayatollah Khomeini haben sich die schiitischen Geistlichen maximal als Berater verstanden, nicht jedoch als Herrschende und Entscheidungsträger.
Was heißt das konkret?
Hashemi: Die "Herrschaft des Rechtsgelehrten" sieht vor, dass es einen weltlichen Stellvertreter für den letzten, den verborgenen Imam Mahdi gibt. Dieser Stellvertreter ist nun der Revolutionsführer selbst – ein Amt auf Lebenszeit. Völlig konträr zu dieser Theorie und ihrer Umsetzung erleben wir jedoch in den vergangenen Jahrzehnten eine Säkularisierung der iranischen Bevölkerung. Ich würde sogar behaupten, dass die iranische Bevölkerung die mit Abstand areligiöseste im gesamten Nahen Osten ist.
"Ich würde behaupten, dass die iranische Bevölkerung die mit Abstand areligiöseste im gesamten Nahen Osten ist"
Vor allem die Jugend hat sich, durch die enorme Repression, die Diskriminierung und teilweise Rechtlosigkeit von Frauen und von ethnischen und religiösen Minderheiten, völlig von der Religion wegbewegt.
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In dieser Revolution spielen Lieder und die Kunst eine besondere Rolle – es gibt Rapper, die ihre Verachtung gegen das Regime posten und die dann gefoltert werden. Ihnen droht die Todesstrafe. Was nehmen wir im Westen nicht wahr?
Hashemi: Im Westen werden Revolutionen in erster Linie mit Massendemonstrationen, einer dahinterstehenden politischen Führungsfigur und einem idealerweise schon verschriftlichten Parteiprogramm in Verbindung gebracht. Die iranische Revolution verläuft aber anders. Es ist eine Revolution aus der Zivilgesellschaft heraus, getragen von allen ethnischen Gruppen des Vielvölkerstaats Iran, getragen von allen religiösen und sozialen Gruppen. Die Teheraner Eliteuniversitäten mit ihrem enormen Sozialprestige sind genauso daran beteiligt wie die sunnitische Bevölkerung in der Provinz Sistan und Belutschistan. Den kreativen Protestformen kommt dabei eine wichtige Rolle zu. Man hat im Iran als Kulturnation eine große Affinität zu Poesie, Malerei oder Tanz. Die Kunst ist oft die einzige Möglichkeit zum Widerstand ist in einer Atmosphäre der brutalen Gewalt und Niederschlagung von Straßendemonstrationen. Man lernt zwischen den Zeilen zu lesen.
Viele Iraner:innen riskieren ihr Leben, um Infos über die Proteste und die Verhafteten, Ermordeten öffentlich zu machen. Welche Rolle spielen Journalisten?
Hashemi: In der islamischen Republik gibt es nicht einmal Ansätze von Pressefreiheit. Selbst Medien, die zum Lager der sogenannten "Reformer" zählen, müssen regimetreu berichten, weil sie sonst damit rechnen können, ihre Lizenz zu verlieren und ihre Journalistinnen und Journalisten verhaftet werden. Es gibt sehr viele Journalist:innen im Iran, die gerne frei berichten würden. Manche wagen das auch immer wieder in Ansätzen, aber die Sanktion des Regimes erfolgt sofort. Deshalb sitzen auch so viele Journalist:innen als politische Gefangene in den Gefängnissen. Es gibt Untergrundmedien, die vor allem auf Telegram aktiv sind. Und ja, die Personen, die diese Videos machen, selbst wenn sie nur aus dem Auto heraus mit dem Smartphone filmen, riskieren ihr Leben.
Die Mehrheit der Iraner strebt wohl einen Regimewechsel an. In allen Landesteilen, jetzt im Osten, in Belutschistan, werden ganze Familien ermordet. Was passiert da gerade?
Hashemi: Die Provinz Sistan und Belutschistan ist eine mehrheitlich sunnitisch bewohnte Provinz im Südwesten des Landes. Der Bevölkerung geht es wirtschaftlich wesentlich schlechter als in anderen Landesteilen. Es herrscht immer Wasserknappheit und auch Dürre. Die Arbeitslosigkeit ist sehr hoch. Gleichzeitig finden in dieser Provinz die meisten Hinrichtungen statt. Dort demonstrieren aktuell viele Menschen auf den Straßen.
Menschen im Iran haben keine freie Presse. Die Propaganda des Staates glaubt keiner mehr. Wo informieren sich die Leute?
Hashemi: Messenger-Kanäle wie Telegram und die verschiedenen Disaporasender, die aus dem Ausland arbeiten, z.B. "Iran International" oder "Manoto TV", gehören zu den wichtigsten Informationskanälen für die iranische Bevölkerung. Sie werden heimlich über Satellitenanlagen empfangen. Nur ein geringer Teil der Bevölkerung informiert sich noch über staatliche Medien. Soziale Medien wie Instagram und auch Twitter in einem kleineren Ausmaß sind ebenfalls wichtig für das Teilen der Informationen über die Proteste. Sie dienen der Mobilisierung und Koordination zwischen den verschiedenen Gruppen und Landesteilen.
Im Iran herrscht Hijab-Zwang für Frauen. Das heißt, wer das Kopftuch ablegt, kann inhaftiert werden. Es heißt, dass das Budget der Sittenpolizei massiv aufgestockt worden sei. Was bedeutet das?
Hashemi: Die Frage der Organisation und finanziellen Ausstattung der Sittenpolizei ist deswegen so ein Thema geworden, weil diese Einheit für den Tod von Mahsa Jina Amini verantwortlich war. Und damit auch für die daraus resultierenden Proteste der Bevölkerung. Das Regime hat noch im Herbst 2022, in der Zeit der großen Straßendemos, gesetzlich festgelegt, dass die Vorgehensweise der Sittenpolizei verschärft wird. Das heißt: die Präsenz von Kontrolleinheiten auf den Straßen, darunter auch rein weibliche Einheiten, soll verstärkt werden. Man arbeitet nun noch intensiver an der Ausforschung von Frauen, die zum Beispiel im eigenen Auto ohne Kopftuch unterwegs sind. Nach außen wurde gestreut, dass die Sittenpolizei abgeschafft werde. Ablenkungsmanöver, wie sie das Regime oft macht. Tatsächlich jedoch ist es eine perfide Lüge, die leider von vielen Medien außerhalb der islamischen Republik übernommen wurde.
"Nach außen wurde gestreut, dass die Sittenpolizei abgeschafft werde. Ablenkungsmanöver, wie sie das Regime oft macht"
Wie sieht die neue Verfolgung der Frauen im Iran aus?
Hashemi: Derzeit ist es so, dass Frauen häufiger verwarnt werden, zunächst nur mündlich bzw. mittels einer Textnachricht. Erst beim zweiten "Vergehen" erhalten sie eine Strafe oder werden sogar festgenommen. Auch Angestellte in Einkaufszentren, Apotheken, Arztpraxen usw. wurden angewiesen, den Zwangshijab wieder stärker zu beachten.
Welche Funktion hat dieser Zwangshijab?
Hashemi: Der Zwangshijab ist eines der fundamentalen Symbole der islamischen Republik. Es geht bei der aktuellen Revolution bei weitem nicht mehr nur um die Frage der Bekleidungsvorschriften, aber realpolitisch erfüllt der Zwangshijab die Funktion einer Stütze für das System und seinen Unterdrückungsapparat. Im Iran ist der Zwangshijab auch ein Ausdruck der patriarchalen Unterdrückung. Da gibt es nichts schönzureden, und es hat auch nichts mehr mit irgendeiner Form von weiblicher Selbstbestimmung zu tun. Es ist eine zusätzliche Maßnahme, um das System, mit dem viele schon längst abgeschlossen haben, am Leben zu halten.
Frauen verlieren im Iran ihr Leben, weil ihr Hijab nicht richtig saß. Kennen sie Solidaritätsaktionen von Frauen im Westen, die ihr eigenes Kopftuch ablegen, wegen der Gewalt gegen Frauen im Iran?
Hashemi: Solidaritätsaktionen außerhalb des Iran, bei denen Frauen ihre Kopftücher ablegen, um gegen den Zwangshijab im Iran zu protestieren, sind mir leider nicht bekannt. Damit könnten Frauen ein Zeichen zur Unterstützung der Selbstbestimmung der iranischen Frauen setzen. Insgesamt ist mein Eindruck seit vielen Jahren, dass sich muslimische Religionsgemeinschaften außerhalb des Iran nicht mit dem Thema beschäftigen wollen und sich auch nicht eindeutig auf die Seite der Frauen im Iran stellen. Die meisten nehmen eine vermeintlich neutrale Haltung ein. Obwohl wir alle wissen, dass auch das Nicht-Stellung-Beziehen immer eine Form von Parteinahme ist.
Ist den Iraner:innen bekannt, dass ihre Geistlichen ein Vermögen von Millionen Dollar im Ausland geparkt haben?
Hashemi: Den Iraner:innen ist das absolut bekannt. Alle wissen, dass sowohl die geistliche Führung der islamischen Republik als auch die hochrangigen Angehörigen der Revolutionsgarde Konten im Ausland haben, auf denen sehr viel Geld geparkt ist. Alleine das Vermögen des Revolutionsführers wird auf mindestens 100 Mrd. USD geschätzt. Und das sind konservative Schätzungen. Es hat sich bereits in den 1990er Jahren mit dem damaligen Präsidenten Rafsandschani der Begriff der "Mullah-Millionäre" in der islamischen Republik gebildet. Heute müsste man von Mullah-Billionären sprechen.
"Alle wissen, dass sowohl die geistliche Führung der islamischen Republik als auch die hochrangigen Angehörigen der Revolutionsgarde Konten im Ausland haben"
Seit Jahren werden die vom Westen sanktionierten Ölgeschäfte des Regimes mit Hilfe eines ausgeklügelten Netzes an Scheinfirmen und Banken weltweit ausgehebelt. China ist ein wichtiger Abnehmer des Öls. Damit ist die religiöse Elite des Landes und die Revolutionsgarde reich geworden. Die Bevölkerung hingegen verarmt zunehmend. Es gibt unter Iraner:innen sehr viele tragikomische Witze und Memes über den Reichtum der Mullahs und der Garde, das über viele Geld im Ausland. Vor allem, dass ihre Kinder und Kindeskinder mit diesem Geld im Westen ein freies Leben führen können.
Sie begleiten seit Monaten die Revolte auf Twitter, was motiviert sie trotz der Konfrontation mit endlosen Gräueltaten und Unrecht weiterzumachen?
Hashemi: Was mich motiviert, ist die Hoffnung, der Mut und die Kraft der jungen Bevölkerung im Iran. Diese Menschen, die mir ihre Videos schicken, mir Informationen zukommen lassen und all ihre Hoffnung darin gelegt haben, dass sich die Weltöffentlichkeit dieses Mal nicht von ihnen abwenden und sie ihrem Schicksal überlassen wird. Ein ganz wichtiger innerer Antrieb ist aber natürlich auch meine eigene Geschichte bzw. die meiner Familie. Ich bin in einem Umfeld groß geworden, in dem so gut wie alle Freunde und Bekannten meiner Eltern und auch meine Eltern selbst, ehemalige politische Gefangene waren. Das prägt die Art und Weise wie man die Welt wahrnimmt. Und auch wenn meine Eltern großteils diese Erlebnisse von mir ferngehalten haben, damit ich unbelastet aufwachsen kann, so wurde mir dennoch ein gewisses Bewusstsein für die Geschehnisse im Iran mitgegeben. Ich empfinde mein aktuelles Engagement für die iranische Zivilgesellschaft aber nicht als Belastung, im Gegenteil. Es ist eine Verantwortung, die ich gerne übernehme. Weil ich etwas von meiner Freiheit und dem guten Leben zurückgeben möchte, das mir dank der Flucht meiner Eltern und der Aufnahme in Österreich ermöglicht wurde.