blinder Schüler während dem Unterricht im Klassenraum
© epd-bild / Stefan Boness/Ipon
Ein sehbehinderter Junge bekommt Unterricht in der "Abraha Bahto School for the blind" in Asmara in Eritrea. Ingrid Felber-Bischof erzählt davon, wie Bibelgesellschaften in Afrika helfen.
Alphabetisierung blinder Menschen
Lesen können - so fühlt sich echte Teilhabe an
Blinde Menschen haben in manchen Gegenden der Welt keine Möglichkeit, Lesen und Schreiben zu lernen. Dabei gibt es die Blindenschrift Braille schon seit fast 200 Jahren. Ingrid Felber-Bischof erzählt davon, wie die Bibelgesellschaften in Burkina Faso und Angola für blinde Menschen das Lesen- und Schreibenlernen ermöglichen und so in deren gesamten Leben tatsächlich einen Unterschied machen.

Wie sähe mein Leben aus, wenn ich Lesen und Schreiben nicht hätte lernen können? Die Einschränkungen sind kaum vorstellbar. Lesen ist für die meisten von uns eine Schlüsselkompetenz, um teilhaben zu können an der Gesellschaft. Doch während die Alphabetisierungsrate auf der ganzen Welt seit über 100 Jahren beständig steigt, sind blinde Menschen zum allergrößten Teil immer noch von dieser positiven Entwicklung ausgeschlossen, obwohl es mit der Punktschrift seit beinahe 200 Jahren ein bestens funktionierendes Lese- und Schreibsystem gibt.

Als Kind war ich eine "Leseratte". Unersättlich. Bücher wurden regelrecht verschlungen, sobald das dazu notwendige Maß an Lesefähigkeit vorhanden war. In der kleinen Stadtbücherei vor Ort gab es immer wieder neues Lesefutter, und für den Leseausweis habe ich das bescheidene und mühsam ersparte Taschengeld ohne Bedauern investiert. Lesen war Abenteuer. Alles was lesbar war, wollte entziffert werden.

Aus Buchstaben wurden Worte, Sätze, Geschichten und Gedichte, ich lernte unbekannte Menschen in unbekannten Welten kennen, ich fühlte ihre Freude und ihre Trauer, mit Herzklopfen und auch mit Tränen. Während der weiteren Schulzeit wurde das Lesen dann zu einer Art "Fortbewegungsmittel", mit dem man leicht durch den Lernstoff brausen konnte. Das war vielleicht nicht immer so aufregend, aber es war äußerst nützlich. Und die schönen Bücher, die so viel Freude machten beim Lesen, konnte man ja nach dem Unterricht weiterhin verschlingen und sie, mit neuem Wissen erfüllt, sogar besser verstehen.

Hohe Hürden für blinde Menschen

In meiner langjährigen Arbeit beim Weltverband der Bibelgesellschaften, als Koordinatorin von Programmen für Menschen mit Sehbehinderung, traf ich immer wieder blinde Menschen, die in ihrem Leben keine Möglichkeit gehabt hatten, Lesen zu lernen. Beispielsweise weil die Familie das Schulgeld für das Kind nicht bezahlen konnte oder weil es keine Transportmöglichkeiten zu einer der wenigen spezialisierten oder inklusiven Schulen gab. Manche Eltern wussten gar nicht, dass blinde Kinder überhaupt Lesen und Schreiben lernen können.

Dazu kommt, dass Blindheit in bestimmten Kulturen als Fluch empfunden wird, der auf der ganzen Familie lastet und sie dazu zwingt, Abstand zu halten. Und auch wenn Erwachsene durch einen Unfall oder Krankheit erblinden, denkt meist niemand daran, dass das Erlernen der Punktschrift noch möglich ist.

Sogar in den USA können nur etwa zehn Prozent aller blinden Menschen Braille lesen. In vielen Ländern, vor allem der südlichen Hemisphäre, ist die Rate aber noch viel geringer. Die Bibelgesellschaft in Angola hat vor Kurzem bei ihren Recherchen zu einem regionalen Projekt festgestellt, dass nur 1,1 Prozent der Betroffenen in dieser Region überhaupt Lesen gelernt haben.

Doch der Wunsch es zu lernen, ist groß. Deshalb hat sich die Bibelgesellschaft dafür entschieden, zusammen mit den Kirchen und anderen Institutionen vor Ort ein Alphabetisierungsprogramm für blinde Menschen zu entwickeln, bei dem auch Bibeltext zugänglich gemacht wird.

"Mission Inclusive" – die Arbeit der Bibelgesellschaften in Angola und Burkina Faso

In Burkina Faso, in Westafrika, hat die Bibelgesellschaft schon vor über zehn Jahren beschlossen, ein spezielles Alphabetisierungsprogramm für blinde Erwachsene zu entwickeln. Der Besuch im Ausbildungszentrum am Rande von Ouagadougo hat mich tief beeindruckt, und die Begegnungen mit den Absolvent:innen und Ausbilder:innen stehen mir heute noch lebendig vor Augen.

Während des Unterrichts in kleinen Gruppen von fünf bis sechs Personen lernten alle hochkonzentriert, unter einfachsten Bedingungen und bei großer Hitze im nur spärlich beschatteten Innenhof des Gebäudes. Jede Gruppe hatte eine:n (blinde:n) Tutor:in. Das waren diejenigen, die die Ausbildung im Jahr zuvor als Kursbeste abgeschlossen hatten. Sie dürfen nach Kursende für ein bis zwei Jahre eine Lerngruppe leiten und erhalten für die Arbeit einen kleinen Lohn, mit dem sie sich ihre berufliche Zukunft aufbauen können.

So traf ich Odette. Sie erzählte, dass sie erst durch das Tutorium entdeckte, wieviel Freude sie am Unterrichten hat. Ihr nächstes Ziel war es nun, eine Ausbildung als Lehrerin zu machen. Erst die Teilnahme am Alphabetisierungsprogramm hat sie ihre eigenen Fähigkeiten entdecken lassen und ihr den Weg gezeigt, diese einzusetzen.

Die Bibelgesellschaft in Burkina Faso kooperierte von Anfang an mit der Regierung, um den blinden Teilnehmenden die staatliche Anerkennung der Ausbildung zu gewähren. Der gesamte Lernstoff der staatlichen Schulen wurde übernommen und in Braille umgesetzt. Die Mitarbeitenden der Bibelgesellschaft schulten dann die staatlichen Mitarbeitenden, die am Ende jedes Semesters die Prüfungen abnehmen, damit sie die Arbeiten beurteilen können, die in Brailleschrift geschrieben sind.

Plötzlich mehr Verantwortung

Da die Analphabet:innenrate in Burkina Faso generell, das heißt auch unter Sehenden, hoch ist, - 2018 lag sie bei circa 60 Prozent, 2021 immer noch bei knapp 54 Prozent - hatte die Bibelgesellschaft bereits viel Erfahrung bei der Durchführung von Alphabetisierungsprogrammen für Sehende gewonnen. Nun musste alles neu überdacht und umgestaltet werden, um den besonderen Anforderungen blinder Menschen gerecht zu werden.

Während ein Alphabetisierungskurs für Sehende bis zur Abschlussprüfung zwei Jahre dauert, läuft dieser Kurs über vier Jahre. Nicht etwa weil blinde Menschen länger brauchen zum Lernen, sondern weil sie nicht täglich den Weg zur Schule zurücklegen können und daher untergebracht werden müssen. Deshalb bleiben sie sechs Monate vor Ort und kehren danach für ein halbes Jahr in ihre Familie und ihre Dorfgemeinschaft zurück. So bleiben sie in ihrem Umfeld verwurzelt; gleichzeitig können alle ihre Fortschritte wahrnehmen.

Ein blinder junger Mann aus dem Kurs erzählte, dass er durch seine Schreib- und Rechenkenntnisse bei der ersten Rückkehr nach Hause bereits die Verantwortung für die Buchführung der Dorfgemeinschaft übernehmen konnte: Er erfasste, welche Familie welche Waren für den Markt ablieferte, was verkauft wurde und wieviel Geld die einzelnen Familien aus dem Verkauf am Ende des Markttages bekommen. Niemand sonst aus dem Dorf wäre dazu in der Lage gewesen, auch niemand der Sehenden. Er staunte selbst mindestens genauso über seine neuen Fähigkeiten wie seine Familie und die Dorfgemeinschaft.

Teilhabe auch im Glauben

Wenn Bibelgesellschaften ihr Mandat ernst nehmen, allen Menschen die Bibel in ihrem bevorzugten Format zugänglich zu machen, müssen sie sich der Realität stellen. In Burkina Faso, Angola und mehreren anderen Ländern hat man die Herausforderung angenommen und sucht im Dialog mit den Zielgruppen nach neuen Wegen.

Ich freue mich jedes Mal, wenn ich neue Projektanträge sehe, die mir zeigen, dass immer mehr Bibelgesellschaften sich an Braille-Alphabetisierungsprogramme heranwagen. Dann tauchen vor meinen Augen die leuchtenden Gesichter der Absolvent:innen in Ougadougou auf, ich höre ihr Lachen und spüre ihre Freude an dieser Lern- und Lebensgemeinschaft, die ihrer jahrelangen Isolation und Einsamkeit ein Ende setzte. So funktioniert Barrierefreiheit. Lesenlernen bedeutet für sie, ihre eigenen Fähigkeiten und Gaben zu entdecken, innere und äußere Anerkennung zu erfahren, Gerechtigkeit zu finden und am Leben teilhaben zu können.

Dass sie als Teil ihrer Ausbildung auch Zugang zur Bibel bekommen und diese selbst lesen können, schafft eine noch tiefere Dimension von Teilhabe. Im reflektierenden Lesen können sie endlich auch eine persönliche Beziehung und einen inneren Dialog mit Gott beginnen. Nicht länger ausgegrenzt, sondern schrankenlos geliebt.

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