Manchmal erzählt die Wirklichkeit jedoch Geschichten, die derart bizarr sind, dass sie als Drehbuch völlig unglaubwürdig wären. Deshalb beginnt Regisseur Johannes Naber sein Drama "Curveball" mit dem Hinweis "Eine wahre Geschichte. Leider." Sie beginnt 1997 im Irak: Chemiker Wolf (Sebastian Blomberg), Experte für biologische Kriegsführung beim Bundesnachrichtendienst, ist überzeugt, dass Saddam Hussein geheime Fabriken für die Herstellung verbotener Kampfstoffe betreibt, doch seine Suche bleibt erfolglos. Zwei Jahre später bittet ihn sein Chef (Thorsten Merten), einen geflüchteten Iraker zu vernehmen. Rafid Alwan (Dar Salim) ist Ingenieur und hat eine plausible Erklärung dafür, warum Wolf und die anderen Kontrolleure der Vereinten Nationen nichts gefunden haben: weil die Kampfstoffe in mobilen Fabriken hergestellt würden, auf riesigen Lastern, die ständig unterwegs seien.
Der Mann beteuert, er sei selbst an der Produktion von Milzbranderregern beteiligt gewesen. Die Information versetzt den BND in helle Aufregung: Eine Flasche würde genügen, um Tausende zu töten. Naber wählt ein drastisches Bild, um zu illustrieren, wie das Gift wirkt: Bei einem Empfang nimmt Wolfs Chef einen Gärtner wahr, der eine Flüssigkeit versprüht; die Gäste sterben qualvoll.
Tilmann P. Gangloff, Diplom-Journalist und regelmäßiges Mitglied der Jury für den Grimme-Preis, schreibt freiberuflich unter anderem für das Portal evangelisch.de täglich TV-Tipps und setzt sich auch für "epd medien" mit dem Fernsehen auseinander. Auszeichnung: 2023 Bert-Donnepp-Preis - Deutscher Preis für Medienpublizistik (des Vereins der Freunde des Adolf-Grimme-Preises).
Zum Glück entpuppt sich das Massaker als blühende Fantasie. Die Erzählungen von Rafid allerdings auch: In seinen Sachen finden BND-Agenten einen Aufsatz von Wolf, in dem der Chemiker exakt jene Theorie entwirft, die der Iraker zum Besten gegeben hat; der Mann hat einen cleveren Weg gefunden, um seinen Asylantrag zu beschleunigen. Einziger Beleg für seine Schilderungen war ohnehin eine Zeichnung auf einer Papierserviette, die skizzierte, wie die Giftstoff-Lkws aussehen. Wolfs kurzzeitig vielversprechende Karriere ist abrupt gestoppt, und auch die Geschichte wäre nun eigentlich zu Ende, aber zwei weitere Jahre später steuern islamistische Terroristen Flugzeuge ins World Trade Center, und George W. Bush ruft den Krieg gegen den Terror aus. Die USA betrachten auch den Irak als Bedrohung. Außenminister Colin Powell berichtet im UN-Sicherheitsrat von geheimen Fabriken zur Produktion von Massenvernichtungswaffen. Dafür gibt es zwar keine offiziellen Beweise, aber die Amerikaner verfügen mittlerweile über ein Indiz, das ihnen offenbar genügt: eine Skizze auf einer Serviette. Als Wolf von seiner CIA-Freundin Leslie (Virgina Kull) wissen will, wer ihr das Recht gebe, die Fakten zu verdrehen, entgegnet sie kühl: "Wir machen die Fakten."
Auch wegen solcher Sätze erinnert die Handlung an Barry Levinsons Film "Wag the Dog" (1997), in dem ein US-Präsident einen Krieg anzettelt, um seine Wiederwahl zu retten; die Wirklichkeit hat das fiktive Szenario auf tragische Weise überholt. Angesichts der unzähligen Opfer, die der Irak-Konflikt und die anschließenden kriegerischen Auseinandersetzungen mit dem "Islamischen Staat" gekostet haben, sahen sich Naber und sein Koautor Oliver Keidel außer Stande, die groteske Geschichte von "Curveball" – der Baseballbegriff war der CIA-Deckname für Rafid – ebenfalls als Satire zu erzählen; immerhin gibt es immer wieder komische Momente. Die Inszenierung ist jedoch denkbar zurückhaltend, weshalb das Finale mit der vom Drehbuch erfundenen Entführung des Irakers durch Wolfs CIA-Freundin samt entsprechender Verfolgungsjagd fast schon ein Action-Feuerwerk ist. Etwas weniger Understatement bei der Umsetzung hätte dem Film nicht geschadet; auch die sparsame dissonante Musik ist nicht gerade gefällig.
Der Regisseur hat zuletzt mit der hochkarätig besetzten Verfilmung von Wilhelm Hauffs Schwarzwaldmärchen "Das kalte Herz" (2016) eine Parabel über die Gier erzählt. Bekannt geworden ist er vor allem durch sein vorzüglich gespieltes Kammerspieldrama "Zeit der Kannibalen" (2014); die satirische Abrechnung mit dem Kapitalismus (ebenfalls mit Blomberg) hat beim Deutschen Filmpreis die Auszeichnung für das beste Drehbuch und außerdem eine "Lola" in Bronze bekommen. Auch "Curveball – Wir machen die Wahrheit" ist über weite Strecke als Zwei-Personen-Stück gestaltet: Zwischen Wolf und Rafid entwickelt sich im Verlauf vieler Gespräche eine Art Freundschaft, die selbst dann noch Bestand hat, als der Betrug des Irakers auffliegt. Dar Salim, Däne mit irakischen Wurzeln, ist ein würdiger Gegenspieler für Blomberg; TV-Zuschauer kennen ihn als dänisches Mitglied des Bremer "Tatort"-Teams. Thorsten Merten hat für seine Rolle 2021 den Deutschen Filmpreis bekommen.